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Urteil nach Mord an Mouhamed Dramé: Alle angeklagten Polizist:innen freigesprochen

Ein langer und aufsehenerregender Gerichtsprozess am Dortmunder Landgericht geht mit dem Freispruch aller Angeklagten zu Ende. Die Tat wird als Polizeimord im Zusammenhang mit Rassismus und Klassenjustiz auf der anschließenden Kundgebung direkt vor dem Gebäude massiv kritisiert.

Am 8. August 2022 wurde der zu dem Zeitpunkt 16-jährige Mouhamed Lamine Dramé auf erschreckende Art und Weise von der Dortmunder Polizei getötet. Der schwarze, muslimische und nach Deutschland geflüchtete Jugendliche, der sich für Fußball und den BVB begeisterte, befand sich in einer psychischen Ausnahmesituation. Ein leitender Betreuer der integrativen Institution, in der sich Mouhamed Dramé befand, rief die Polizei um Hilfe, da Mouhamed geistig scheinbar abwesend mit einem Messer in der Hand auf dem Boden des Außengeländes der Einrichtung saß.

Die Polizei bedrohte den Jugendlichen sogleich massiv, griff ihn mit Pfefferspray und Elektroschocker an und verletzte ihn schließlich mit mehreren Schüssen aus der Maschinenpistole tödlich, als Mouhamed Lamine Dramé aufstand und versuchte wegzulaufen.

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Die Tat in der Presse

Der WDR berichtete ausführlich über den Polizeimord und auch Perspektive machte ihn bereits mehrfach zum Thema. Tat und Prozess sorgten ebenfalls in der lokalen Presse und Bevölkerung für viel Aufrmerksamkeit. Mit dazu beigetragen hat besonders das Bündnis Solidaritätskreis Justice4Mouhamed, das den Prozess engmaschig begleitete, Informationen auf der eigenen Homepage bereit stellte, regelmäßige Kundgebungen organisierte und die Familie des Opfers bis heute unterstützt.

Mainstream-Medien hingegen betonen immer wieder die Komplexität der Tatsituation und behandeln die angeklagten Polizist:innen mitunter als Opfer.

Freispruch für alle Angeklagten

Der Prozess begann am 19.12.2023 und endet gestern nach fast einem Jahr und über 30 Verhandlungsterminen mit dem Freispruch aller fünf Angeklagten. An der Tat beteiligt waren insgesamt über zehn Polizist:innen.

Ein Hauptargument für den Freispruch scheint die ganz subjektive Perspektive der Polizist:innen zu sein. Dass die Polizist:innen sich bedroht fühlten, sei zwar eine Fehleinschätzung gewesen. Sie habe aber in der subjektiven Logik der Angeklagten zu einer richtigen Schlussfolgerung geführt. Der Tatbestand der Notwehr sei damit also gegeben – auch wenn er objektiv gar nicht bestand. Juristisch heißt das dann „Erlaubnistatbestandsirrtum“.

Gestern, direkt nach dem Urteil am Dortmunder Landgericht wird diese Argumentation auf der Kundgebung der anti-rassistischen Widerstandsbewegung deshalb scharf kritisiert. Die Kundgebung des Solidaritätskreis Justice4Mouhamed beginnt gegen 14:15 Uhr und endet etwa um 15:30 Uhr. Rund 100 Personen sind anwesend, die Stimmung ist erfüllt von Traurigkeit, aber auch Kampfesmut. Mehrfach werden lautstark Parolen wie „Justice for Mouhamed“ und „No Justice – No Peace – Abolish the Police“ gerufen.

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Kundgebung vor dem Gericht

Die Reden auf der Kundgebung werden von ganz verschiedenen Menschen gehalten: von Aktivist:innen des Solidaritätskreises und der Black-Power-Bewegung, von einer Aktivistin, die in einer psychiatrischen Einrichtung in NRW mit traumatisierten Menschen arbeitet, von einer Lehrerin und einer ehemaligen Anwältin.

Besonders die erste Rede sorgt für Aufregung und Bestürzung – das Urteil wird verkündet, und die Rednerin hat immer wieder mit ihren Tränen zu kämpfen. Auch den anderen Redner:innen, die durch die Teilnahme an den Gerichtsverhandlungen stark eingebunden waren, merkt man ihre emotionale Betroffenheit über den ganzen Prozess und das Urteil deutlich an. Der ältere Bruder des Opfers ist auch anwesend, er spricht nicht – doch sein trauriger Blick und seine in sich zusammengesackte Haltung sprechen für sich.

Die Reden behandeln eine ganze Bandbreite an Themen: Was bedeutet das Urteil für die Angehörigen? Was bedeutet es für die Polizei und für andere gewalttätige Polizist:innen? Um es in den Worten des Redners Mwaye Mudza zu sagen: Das Urteil ist ein Aufruf an alle Bullen, „macht das – killt die Leute.“ Eine Teilnehmerin äußert die Befürchtung, dass die „Bullen“ das Urteil jetzt erst einmal feiern werden, und die Sorge, dass die Freigesprochenen nun wieder ganz normal und mit Freibrief auf den Dortmunder Straßen ihr Unwesen treiben werden.

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Rassistische Klassenjustiz

Mehrere Redner schildern ihre anfängliche Hoffnung auf ein gerechtes Urteil, die sie, wie sie selbst sagen, wider besseren Wissens gehabt hätten. Besonders, als es dann tatsächlich zu einem Prozess kam, flammte diese erneut auf. Auch, dass sogar die geforderten 5.000 Euro Geld- und zehn Monate Bewährungsstrafe dann noch unterlaufen wurden, hätten mehrere Teilnehmer:innen niemals gedacht. Selbst die kleinsten Hoffnungen wurden bitter enttäuscht.

Es werden Rassismus und Klassenjustiz als Probleme benannt. Insgesamt wird vor allem anti-schwarzer Rassismus problematisiert. Das Urteil zeige eine Kontinuität im Umgang mit Polizeimorden an „schwarzen“ Menschen und sei eben nicht die Ausnahme, sondern rassistische Realität in Deutschland.

Eine Anwältin, die 46 Jahre in Dortmund tätig war, hat weiterhin Vertrauen in den Rechtsstaat und stellt gegen Ende das Urteil juristisch infrage. Sie schäme sich für ihre Profession und könne sich vorstellen, dass nicht nur Laien, sondern auch andere Kollegin das Urteil sehr kritisch bewerten. Über ein Berufungsverfahren wird bereits diskutiert.

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Unprofessionalität, Ignoranz und Täter-Opfer-Umkehr

Ein weiterer, mehrfach thematisierter Aspekt ist der völlig unprofessionelle Umgang der Polizei mit traumatisierten Menschen sowie die ebenso unprofessionelle Haltung des Richters dazu. Es werde so getan, als gäbe es die vielfältigen Forschungen und Diskussionen zu diesem Thema gar nicht.

Überhaupt sei der ganze Prozess von Rassismus und Respektlosigkeit durchzogen gewesen. Die Polizist:innen seien stets wohlwollend behandelt worden, die Angehörigen und andere Befragte hingegen nicht – im Gegenteil: Es gab keine Entschuldigungen und auch keine Angebote der Versöhnung. Vielmehr durften die Polizist:innen in ihrem ganz „eigenen Film“ bleiben, also völlig ignorant in ihrer ganz eigenen Logik, wie Noah aus den Gerichtverhandlungen berichtet.

Sie hätten immer wieder von Mouhamed Lamine Dramé nur als „Zielperson“ gesprochen. Der Einsatzleiter sprach zudem von einem „Standardverfahren bei Selbstmördern“, das er jedesmal anwende: wenn ein Messer im Spiel sei, benutze er Pfeffer. Der „Last Man Standing“ hat die Maschinenpistole getragen, die ja so sehr in der Richtung verziehe, dass man überhaupt froh sein könne, dass der Schütze getroffen habe. Und einer anderen Äußerung der Polizist:innen zufolge hätte man „im offenen Feld gestanden“.

Weitere Demonstration geplant

Die Wut über das Urteil haben dann Teilnehmer:innen mit einer spontanen Demonstration am Abend Ausdruck verliehen. Dabei wurde auch die Polizeiwache Nord angesteuert, von der aus die Polizist:innen damals losgezogen sind. Vom Solidaritätskreis Justice4Mouhamed wird zu einer weiteren Demonstration aufgerufen. Sie findet am Samstag, 14.12. ab 13:12 Uhr auf der Südseite des Dortmunder Hauptbahnhofs statt.

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