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Was bedeutet der vermeintliche Waffenstillstand im Libanon?

Großer Hoffnungsträger auf einen baldigen Frieden oder doch nur trügerisches Taktieren der Großmächte? Der Waffenstillstand zwischen der Hisbollah und Israel bedeutet eine zumindest kurzfristige Veränderung im Kriegsgeschehen in Westasien. Ob dieser aber von langer Dauer sein wird, bleibt fraglich. – Ein Kommentar von Phillipp Nazarenko.

Unter amerikanischer und französischer Federführung wurde zum 27.11.2024 eine Waffenruhe zwischen der bewaffneten libanesischen Partei Hisbollah und dem israelischen Staat geschlossen. Noch direkt vor dem Inkrafttreten des Waffenstillstands bombardierte Israel die libanesische Hauptstadt Beirut mit weiteren zivilen Opfern. Die Vereinbarung, die auch den libanesischen Staat einbezieht, fordert vor allem einen Abzug der bewaffneten Kräfte der Hisbollah hinter die Grenze des Litani-Flusses, sowie einen über zwei Monate gehenden Abzug der israelischen Besatzungsarmee. Logischerweise sollen in diesem Zeitraum keine Kampfhandlungen stattfinden.

Einerseits soll die offizielle libanesische Armee, die sich bis dato aus den Kampfhandlungen herausgehalten hat, die von Israel und der Hisbollah zu räumenden Gebiete sichern. Die UN-Mission UNIFIL, an der auch die USA und Frankreich beteiligt sind, soll die Durchführung und Einhaltung des Abkommens überwachen. Wie genau die Mission Verstöße gegen die Auflagen ahnden soll, bleibt jedoch unklar.

Libanon-Krieg: Israel greift wiederholt UN-Truppen an

Tatsache ist, dass die israelischen Besatzungstruppen nicht aufgehört haben, die Bevölkerung des Libanons anzugreifen. UNIFIL berichtet, dass Israel die Vereinbarung bereits beinahe 100 Mal gebrochen habe und weiterhin Menschen in den besetzen Gebieten ermorde. Die israelische Armee versteht ihre anhaltenden Angriffe hierbei jedoch nicht als Bruch eines Waffenstillstandes, sondern vielmehr als „Erzwingen der Bedingungen“ für den Waffenstillstand: Israels Außenminister Gideon Sa’ar wiederholt unbeirrt, dass die Angriffe nur durchgeführt würden, um verbliebene Hisbollah-Kämpfer von der südlibanesischen Grenze zu vertreiben. Hunderttausende Geflüchtete versuchen unterdessen bereits, in ihre von Israel besetzten und zerbombten Dörfer und Häuser zurückzukehren, werden aber von der israelischen Armee Israel Defence Force (IDF) mit Gewalt davon abgehalten.

Wer profitiert vom Waffenstillstand?

Sowohl die Hisbollah als auch Israel und die USA stellen die Unterzeichnung des Abkommens als „großen Sieg“ für die je eigene Seite dar. Beide Darstellungen müssen jedoch hinterfragt werden. Der ohnehin schon ökonomisch und von der Infrastruktur her stark angeschlagene Libanon hat weitere große Verluste und Schäden erlitten. Hundertausende Libanes:innen wurden vertrieben, zu Tausenden getötet und verletzt.

Auch die Hisbollah hat hierbei nennenswerte Verluste – sowohl militärisch als auch ökonomisch – erlitten. Nicht zuletzt der Verlust wichtiger Führungspersonen wie des politischen Anführers Hassan Nasrallah, wird der Partei nachhaltigen Schaden zugefügt haben. Gleichzeitig ist die Frage, ob sie sowohl aus der Verteidigung des Landes als auch aus der nun kommenden Wiederaufbautätigkeit politisches Kapital ziehen kann, noch unbeantwortet. Klar ist, dass die Hisbollah zwar geschwächt, aber alles andere als „besiegt“ ist.

EIL: Israelischer Krieg auf Libanon eskaliert – „begrenzte Bodenoperation“ hat begonnen

Auch Israels „Siegesmythen“ sollte man keinen Glauben schenken: In der Unfähigkeit, den libanesischen Widerstand militärisch über Bodentruppen zu zermürben bzw. zu zerschlagen, ging der israelische Staat ähnlich wie in Gaza dazu über, ungehemmt die Zivilbevölkerung zu bombardieren. Israel ist dabei grundsätzlich darauf bedacht, so gut wie nichts über die eigenen Verluste zu veröffentlichen, um die Kriegsmoral der eigenen Bevölkerung hochzuhalten. Der Mythos der eigenen „Unbesiegbarkeit“ ist essentiell für das siedlerkoloniale Projekt Israels, um den Widerstand der kolonisierten Bevölkerung von Anfang an als zwecklos darzustellen und sie zu entmutigen.

Doch zeigt der Waffenstillstand, der schließlich auch von Israel gewollt wurde, wie verletzlich und instabil dessen Regime geworden ist: Der Zwei-Fronten-Krieg zwischen der Hisbollah im Norden und dem immer noch aktiven palästinensischen Widerstand in Gaza ist eine unangenehme Zwickmühle, die den Israelis zu schaffen macht. Der Krieg hat im Land zwar bisher kaum zivile Verluste, dafür aber schwere ökonomische Schäden hinterlassen.

Was sind die politischen und militärischen Hintergründe des Abkommens?

Doch auch die geostrategischen Aspekte dürfen hier nicht vernachlässigt werden. Der anhaltende Völkermord in Palästina wie auch der Krieg im Libanon finden nicht im luftleeren Raum statt: Mächte wie die USA und der Iran nutzen sie ebenfalls für die Erweiterung ihrer jeweiligen Einflussgebiete.

Israelischer Angriff auf Iran bleibt begrenzt – wie geht es nun weiter?

Sowohl Netanyahu als auch Biden machen klar, dass der Kampf gegen den Iran für sie im Vordergrund steht. So scheint es durchaus möglich, dass Israel und seine Verbündeten die nördliche Front gerne so schnell wie möglich schließen möchten, um sich auf die direktere Konfrontation mit dem Iran vorzubereiten. Ob eine solche Schließung jedoch gelingen mag, ist fragwürdig. Das Agieren der israelischen Besatzungskräfte im Libanon ist alles andere als deeskalierend.

Was bedeutet der Waffenstillstand für Israels Genozid in Palästina?

Auch wenn der Waffenstillstand zweifellos der Bevölkerung des Libanons eine kleine Atempause verschafft, geht das Morden in Gaza munter weiter. Inzwischen ist bereits von über 300.000 von Israel direkt und indirekt ermordeten Palästinenser:innen im Gazastreifen auszugehen. Und dennoch ist es den Besatzern bisher nicht gelungen, den bewaffneten Widerstand in der zerbombten und ausgehungerten Region zu brechen.

Ein Jahr israelische Bodenoffensive in Gaza: Das Massensterben geht weiter

Nichtsdestotrotz bedeutet der zumindest temporäre Wegfall libanesischer Unterstützung eine Intensivierung des Drucks auf die palästinensische Bevölkerung und die Widerstandskräfte in Gaza. Ein Ende des Völkermords scheint also nicht näher zu rücken – vor allem jetzt, da die aktuellen Entwicklungen in Syrien die globale Aufmerksamkeit weg von Israels Vernichtungsfeldzug lenken.

Phillipp Nazarenko
Phillipp Nazarenko
Sächsischer Perspektiveautor seit 2022 mit slawisch-jüdischem Migrationshintergrund. Geopolitik, deutsche Geschichte und der palästinensische Befreiungskampf Schwerpunkte, der Mops das Lieblingstier.

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