Am Mittwoch trafen sich Vertreter:innen der EU und von sechs Balkanländern in Brüssel zum gemeinsamen Gipfel. Aktuell hat es die deutsche Regierung auf Bündnispolitik in Bezug auf die Ukraine und den Abbau von Lithium in Serbien abgesehen – Ein Kommentar von Thomas Stark.
Sechs Feinde zu Gast bei Freunden? So in etwa ließe sich der Widerspruch zwischen Show und Wirklichkeit umreißen, wenn die EU ihre regelmäßigen Gipfeltreffen mit den Staaten des Westbalkan abhält. Denn die zur Schau gestellte Partnerschaft zwischen den Balkanstaaten und der Europäischen Union kann nicht verdecken, dass die Halbinsel zwischen Adria und Schwarzem Meer nach wie vor von ethnischen Konflikten geprägt ist — und dass die EU-Mächte ihren historischen Anteil daran haben, diese Konflikte zu schüren.
Am heutigen Mittwoch waren die Regierungschefs von Albanien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Montenegro, Nordmazedonien und Kosovo nach Brüssel gereist. Der neue Präsident des Europäischen Rates, António Costa aus Portugal, hatte offiziell eingeladen. Dominiert werden die Beziehungen jedoch von den Führer:innen der europäischen imperialistischen Staaten, allen voran der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz.
Deutsches Interesse an serbischem Lithium
Scholz hatte schon im Vorfeld des Gipfeltreffens für eines seiner derzeit wichtigsten Projekte auf dem Balkan gekämpft: In der vergangenen Woche hatte er sich im sächsischen Freiberg mit dem serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić getroffen, um über die künftige deutsche Rolle beim Abbau von Lithium in Serbien zu verhandeln.
Lithium ist der wichtigste Rohstoff für die Herstellung von Batterien für Elektroautos. Die strategische Bedeutung eines sicheren Zugangs zu dem Alkalimetall ist daher für die deutsche Industrie kaum zu überschätzen. Im Westen Serbiens liegen große Vorkommen des Materials. Deutsche Technologie für den Abbau soll dort Umweltprotesten aus der Bevölkerung den Wind aus den Segeln nehmen — und die Serb:innen zugleich in Abhängigkeit von Deutschland bringen.
Ukraine-Krieg war ein Hauptthema
Das Thema Lithium bildete für den EU-Westbalkangipfel jedoch eher eine Art Begleitmusik und stand nicht direkt auf der Tagesordnung. Dort ging es nämlich vor allem um den Ukraine-Krieg. Im Vorfeld erklärte Kanzler Scholz, „wir kommen jetzt in eine entscheidende Phase. Alle reden darüber, wie wir möglicherweise das Töten beenden und diesen Krieg zu einem Ende bringen können.“ Dafür brauche man klare Prinzipien, „an die wir uns alle gemeinsam halten können“. In vertraulicher Runde beriet sich Scholz unter anderem über die weitere Unterstützung der Ukraine. Bei den Beratungen war auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zugegen.
Die Einigkeit beim Thema Ukraine ist in der Runde jedoch begrenzt. Russland ist nach wie vor eine sehr einflussreiche Macht auf dem Balkan, vor allem in Serbien. Die Verbindung zwischen beiden Ländern reicht Jahrhunderte zurück und ist kulturell tief verankert, insbesondere durch die christlich-orthodoxe Religion. Die Mehrheit der Serb:innen unterstützt Russlands Krieg in der Ukraine und lehnt die NATO entschieden ab.
Imperialistische Rolle beim Zerfall Jugoslawiens
Das ist kein Wunder, hatte das transatlantische Militärbündnis doch 1999 einen Krieg gegen Serbien angezettelt und serbische Städte bombardiert, um den Kosovo von dem Land abzuspalten. Bis heute ist eine Truppe von etwa 4.800 Besatzungssoldat:innen der internationalen Mission KFOR in dem Land mit albanischer Bevölkerungsmehrheit stationiert, davon rund 300 aus Deutschland. Auch in Bosnien-Herzegowina befinden sich deutsche Soldat:innen.
Überhaupt spielte gerade der deutsche Imperialismus eine wichtige Rolle beim blutigen Auseinanderfallen des früheren, von Serbien dominierten jugoslawischen Staates in den 1990er Jahren, etwa durch seine engen Kontakte zu kroatischen Nationalist:innen. Alle am Mittwoch geladenen Staaten außer Albanien gehörten früher zu Jugoslawien. Die jugoslawischen Ex-Teilrepubliken Kroatien und Slowenien sind bereits EU-Mitgliedsstaaten. Montenegro, Bosnien-Herzegowina und Albanien sind Beitrittskandidaten. Die Beitrittsverhandlungen mit Serbien und Nordmazedonien liegen momentan auf Eis.
Balkan zwischen Imperialisten umkämpft
Der Gipfel mit den Westbalkanstaaten hat für die EU gerade deshalb besondere Bedeutung, weil sehr viele große und regionale Mächte auf dem Balkan aktiv sind. Neben Russland sind das insbesondere die USA, China, die Türkei, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate
Im NATO-Mitgliedsland Albanien unterhalten die USA mehrere Militärstützpunkte. Für China spielt die Region im Rahmen des Projektes „Neue Seidenstraße“ eine zentrale Rolle in Europa. Die Volksrepublik hat in Serbien in den letzten Jahren Milliarden Euro an Krediten in den Bergbau, die Stahlindustrie und die Infrastruktur gesteckt — und stellt damit für Deutschland einen Konkurrenten um serbische Rohstoffe dar. Der chinesische Präsident Xi Jinping war erst im Mai in Belgrad.
Die arabischen Länder und die Türkei wiederum versuchen, vor allem über die muslimischen Bevölkerungsteile in Albanien und Bosnien-Herzegowina, an Einfluss auf dem Balkan zu gewinnen. Die Emirate haben zudem in Belgrad erst vor wenigen Jahren ein neues Stadtviertel hochgezogen.
Wirtschaftliche und militärische Durchdringung
Vor diesem Hintergrund sind die EU-Staaten bestrebt, die wirtschaftliche und politische Unterordnung der Westbalkanstaaten zügig voranzutreiben. Dazu wollen sie ihre Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik und speziell der Zusammenarbeit bei der Abwehr von Cyberangriffen und anderen Akten der hybriden Kriegsführung vertiefen. Die EU will den südosteuropäischen Partnerländern dabei militärische Ausrüstung und Infrastruktur zur Verfügung stellen.
Ebenso beriet der Gipfel über die weitere Integration der Westbalkanstaaten in den Europäischen Binnenmarkt im Rahmen eines schon bestehenden „Wachstumsplans“. Hierfür müssen sich diese zu Wirtschaftsreformen verpflichten und europäischem Kapital den ungehinderten Zugang zu ihren Märkten verschaffen. Der Bundeskanzler erklärte per Pressemitteilung, er wolle den Beitrittsprozess der Westbalkanstaaten in die EU beschleunigen. Der Balkan wird damit immer mehr zum Knotenpunkt zwischenimperialistischer Auseinandersetzungen.