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„Zweiklassenmedizin“: Ungleichheit bei Terminvergabe nur eines von vielen Problemen

Der GKV-Spitzenverband kritisiert die Ungleichbehandlung bei der Terminvergabe von Arztterminen und versuchte, einen Lösungsvorschlag zu bieten. Doch das Gesundheitswesen steht vor vielen weiteren Problemen – von chronischer Unterfinanzierung über Fachkräftemangel bis zu Medikamentenknappheit.

Mit 10 Prozent der Menschen in Deutschland verdienen Ärzt:innen mehr als mit dem Rest der Bevölkerung. Denn die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) setzt Grenzen für die Kosten von Behandlungen, was die private Krankenversicherung (PKV) anders handhabt.

Der GKV-Spitzenverband kritisierte zuletzt die Ungleichbehandlung bei der Terminvergabe, beziehungsweise der Wartezeit für Termine. Bei der Terminvergabe im Internet könne man dies klar bei einer Nachfrage der Versicherung sehen: Klickt man GKV an, wartet man auf einen fachärztlichen Termin mindestens sechs Wochen, bei einer PKV dauert es hingegen nur 24 Stunden.

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Sogar Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) spricht dahingehend von einer „Zweiklassenmedizin“: „Längere Wartezeiten für Kassenpatienten in Praxen und Krankenhäusern sind nicht weiter tragbar. Diese Diskriminierung muss schnellstmöglich enden“, sagte Lauterbach gegenüber dem Tagesspiegel.

Als Lösung schlägt eine Sprecherin vor, dass Arztpraxen dazu verpflichtet werden, tagesaktuell freie Termine im Onlineportal für die gesetzlichen Kassen und die Kassenärztlichen Vereinigungen zur Verfügung zu stellen.

Lange Wartezeit, fehlende Behandlungen

Nach weit über 100 Jahren der getrennten Krankenversicherungen wird jedoch nicht zum ersten Mal auf die Probleme und Ungleichbehandlung hingewiesen. Auch in den letzten Jahren gab es viele Studien, die notwendige Veränderungen offen legten.

2010 schilderte z.B. eine Studie des Allensbach-Instituts und des Finanzdienstleisters MLP Gefahren und Probleme, die weit über Wartezeiten hinaus gingen: 55 Prozent der damals befragten Ärzt:innen gaben an, aus Kostengründen auf Behandlungen verzichtet zu haben, die sie selbst eigentlich als angeraten beurteilten. Jede:r zehnte Ärzt:in gab sogar an, dies regelmäßig zu tun. Dies äußerte sich auch in den Befragungen von Patient:innen. 42 Prozent gaben dort an, Angst zu haben, im Krankheitsfall notwendige Leistungen nicht verschrieben zu bekommen – aufgrund ihrer GKV.

Die Vielfältigkeit der Probleme mit dem momentanen Versicherungswesen zeigte auch eine Studie im Auftrag der Siemens-Betriebskrankenkasse: 28 Prozent der befragten Eltern gaben an, Probleme damit zu haben, für ihre Kinder unter zwölf Jahren überhaupt eine Kinderarztpraxis zu finden. 31 Prozent gaben an, bei Terminen unangemessen lange im Wartezimmer sitzen zu müssen. Auch wenn 77 Prozent im Großen und Ganzen mit ihrer Arztpraxis zufrieden waren, war und bleibt die Angst groß. In der eigenen Region hielt immerhin jede:r Vierte die lebensrettende Notversorgung für nicht gesichert.

Weitreichende Probleme bräuchten tiefgreifende Veränderungen

Es ist also egal, ob alt oder jung, ob auf der Warteliste oder im Wartezimmer – die gesetzlich Krankenversicherten sind stark benachteiligt, was im Zweifelsfall auch lebensgefährlich sein kann. Beispielsweise dann, wenn trotz großer Dringlichkeit wochenlang auf einen Termin gewartet werden muss, wichtige Leistungen von Ärzt:innen aufgrund der Unwirtschaftlichkeit gar nicht erst verschrieben werden, oder weil die Menschen aus Misstrauen gar nicht erst in eine Arztpraxis gehen.

Die Lösung dafür kann nicht allein darin bestehen, Wartezeiten für Termine zu kürzen. Denn scheinbar ist dies nur eines von vielen Problemen. Es bräuchte eine höhere Finanzierung und Priorisierung der gesetzlichen Krankenversicherung und ein Aufstocken der Budgets, anstelle des Streichens von Geldern für die allgemeine Gesundheit, wie dies bei den letzten Bundeshaushalten regelmäßig der Fall war.

Neben einer chronischen Unterfinanzierung des Gesundheitswesens zeigen sich zudem auch personelle Probleme, die immer gravierender und weitreichender werden: Seit 1995 ist der Anteil an unter 35-jährigen Ärzt:innen von 24,8 Prozent auf 18,9 Prozent im Jahr 2021 gesunken. Hinzu kommt ein Mangel an medizinischen Fachangestellten in den niedergelassenen Praxen. Auch im Pflegebereich zeigt sich ein zunehmender Fachkräftemangel, der sich in den nächsten zehn bis 15 Jahren extrem verschärfen soll.

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Eine Lösung der Probleme scheint also nicht in Sicht. Ganz im Gegenteil zeigt sich ein immer größerer Verlust im Vertrauen der Menschen. Das erkennt auch der Vorsitzende des CDU-Sozialflügels, Dennis Radtke, der darin eine Gefahr sieht: „Bei immer weiter steigenden Kosten für die gesetzlich Versicherten verlieren wir irgendwann Akzeptanz und Vertrauen in das System, wenn man trotz akuter Probleme wochenlang warten muss und wie zweiter Klasse behandelt wird.“

In Deutschland gibt es seit Jahren zudem gravierende Lieferengpässe bei Medikamenten: Im September waren laut Bundesinstitut für Arzneimittel rund 500 Präparate betroffen. Gründe dafür sind die Verlagerung der Produktion nach Asien, gestiegene Herstellungskosten und die Festpreis-Regelungen der Krankenkassen. Trotz Reformen wie höheren Vergütungen für Generika und dem Anti-Engpass-Gesetz hat sich die Lage nicht verbessert. Besonders kritisch ist der Mangel bei lebenswichtigen Medikamenten, beispielsweise bei Antibiotika und für HIV-Patient:innen.

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