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10 Jahre Mindestlohn: Eine ernüchternde Bilanz

Anfang 2015 wurde der gesetzliche Mindestlohn eingeführt. Die Meinungen waren geteilt: Während die SPD-nahe Hans-Böckler-Stiftung im Mindestlohn die „größte Sozialreform der Nachkriegszeit“ sah, warnten Konzerne und Lobbyist:innen vor Jobverlusten und Chaos. Zehn Jahre später ziehen die verschiedenen Parteien Bilanz.

Vor zehn Jahren, zu Beginn des Jahres 2015, wurde in Deutschland ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn eingeführt. Von anfangs 8,50 Euro je Stunde steigt dieser nach mehreren Zwischenschritten nun zum 1. Januar 2025 auf 12,82 Euro die Stunde. Damals waren die Meinungen geteilt. Die Große Koalition aus Union und SPD sowie die Gewerkschaften feierten den Mindestlohn als die „größte Sozialreform der Nachkriegszeit“, andere wie der Sachverständigenrat sahen das Vorhaben kritisch, und eine Reihe von Kapitalist:innen beschwor den Verlust von hunderttausenden Arbeitsplätzen.

Die Einführung des Mindestlohns fällt in die Zeit nach der Agenda 2010. Nur wenige Jahre zuvor wurde durch diese in Deutschland ein riesiger Niedriglohnsektor geschaffen: Die Einführung des Mindestlohns sorgte zwar dafür, dass der Fall der Beschäftigten, die in einem der nun zahlreich entstandenen Mini- und Ein-Euro-Jobs arbeiteten, etwas abgefedert wurde. Gleichzeitig verfestigte diese Sozialreform aber solche prekären Arbeitsverhältnisse, indem sie dafür sorgte, dass die Löhne in den hauptsächlich betroffenen Sektoren auch bei einer 40-Stunden-Woche gerade einmal so zum Leben reichten. An der fundamentalen Problematik des Niedriglohnsektors, dessen Angestellte zum Überleben weiterhin in der Regel mehr als nur einen Job benötigen oder finanziell abhängig werden von Partnern und Familie, ändert der Mindestlohn nichts.

Im Jahr 2022 kam das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zu dem Schluss, dass weder die Einführung des Mindestlohns noch spätere Erhöhungen größere Beschäftigungsverluste zur Folge hatten. Das wird unter anderem darauf zurückgeführt, dass der Zuwachs des Mindestlohns bis 2022 hinter der allgemeinen Lohnentwicklung zurücklag.

Mindestlohn – Ausnahme wird zur Regel

Der Mindestlohn wird seit seiner Einführung vor 10 Jahren als „flächendeckend” beworben, faktisch gibt es allerdings zahlreiche Ausnahmen: So sind Auszubildende, ein großer Teil aller Praktikant:innen, Langzeitarbeitslose und Jugendliche unter 18 Jahren ohne abgeschlossene Ausbildung prinzipiell vom Mindestlohn ausgenommen.

„Von den sechs Millionen, die eigentlich was von dem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn unmittelbar gehabt hätten, bekommen es jetzt nur noch 3,5 Millionen. Dann ist es auch nicht mehr flächendeckend, wenn es so viele Ausnahmen gibt. Ich sage mal: die Langzeitarbeitslosen, die Jugendlichen, die Saisonarbeiter“, äußerte sich damals der Linken-Fraktionschef Gregor Gysi dazu.

Weitere Ausnahmen stellen Freiberufler, Selbstständige und Ehrenamtler:innen dar, die ohnehin häufig in prekären Verhältnissen arbeiten. Hierbei ist es besonders wichtig hervorzuheben, dass es häufig ein verzerrtes Bild davon gibt, wer in Deutschland zu den Selbstständigen zählt. „Klassische“ Selbstständigkeit in Form einer eigenen kleinen Firma mit ein paar Angestellten macht hier nur einen Bruchteil aus. Ein großer Teil der Selbstständigen in Deutschland zählt zu den sogenannten „Scheinselbstständigen“, also „Honorarkräften”, die abhängig sind von den Unternehmen, für die sie arbeiten, zum Beispiel Nachhilfelehrer:innen, Lieferfahrer:innen und Teile der Arbeiter:innen aus der Gastronomiebranche.

Mindestlohn-Kommission – sozialpartnerschaftliches „Löhnedrücken”

Seit seiner Einführung wird der Mindestlohn auf Grundlage eines Vorschlags der Mindestlohn-Kommission beschlossen, diese wird von der Bundesregierung eingesetzt. Sie setzt sich aus Konzernvertreter:innen, Vertreter:innen der sogenannten Arbeitnehmer:innenseite – also in der Regel Gewerkschaftsfunktionär:innen – und beratenden Expert:innen zusammen.

Lediglich im Oktober 2022 wurde der Mindestlohn einmal per Gesetz und nicht auf Empfehlung der Kommission hin verändert und auf 12 Euro angehoben. Die Ampelkoalition löste damit ihr Wahlkampfversprechen ein. Es gab allerdings auch kritische Stimmen: Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, rechnete schon damals vor, dass die Mindestlohnerhöhung durch die Inflation neutralisiert wurde und somit einer Nullrunde gleichkam. Er empfahl sogar eine weitere Erhöhung auf über 14 Euro bereits zum Jahreswechsel 2023.

Seit der Erhöhung auf 12 Euro im Jahr 2022 beschloss die Mindestlohn-Kommission noch einmal zwei Erhöhungen um je 41 Cent – die von Fratzscher geforderten 14,13 Euro wurden bisher nicht erreicht, die „Arbeitnehmervertreter:innen“ wurden überstimmt. Scholz bezog vor kurzem Stellung und bestätigte, dass er kein zweites Mal gesetzlich eingreifen werde.

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