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20 Jahre Mord an Oury Jalloh: Hunderte Menschen fordern Aufklärung bei Protesten

Zum 20. Jahrestag des Mords an Oury Jalloh gingen hunderte Menschen in Dessau und einzelnen anderen deutschen Städten auf die Straße. Sie forderten Aufklärung und Gerechtigkeit auf der einen und Kampf gegen die systematischen Ursachen auf der anderen Seite. – Esther Zaim berichtet aus Dessau.

Am 7. Januar 2005 endet das Leben von Oury Jalloh, einem 35-jährigen Mann aus Sierra Leone, auf brutalste Weise in der Gewahrsamszelle 5 des Polizeireviers Dessau. Gefesselt an Händen und Füßen wird sein Körper später völlig verkohlt vorgefunden. Die offizielle Darstellung: Selbstmord. Doch was sich in den Stunden zuvor abspielte und was danach geschah, offenbart ein erschütterndes Muster aus Polizeigewalt, staatlicher Vertuschung und tief verwurzeltem institutionellem Rassismus.

Anlässlich des 20. Jahrestags von Oury Jallohs Tod gingen daher in Dessau an die 800 Menschen auf die Straße, um an den in Polizeigewahrsam getöteten 35-jährigen zu erinnern. Die Demonstration, an der die Initiative Oury Jalloh, zahlreiche bundesweite linke Organisationen, Angehörige von Oury und verschiedene antirassistische und linke Bündnisse teilnahmen, setzte ein kraftvolles Zeichen gegen die massive Problematik der Polizeigewalt in der BRD.

Der tödliche Ablauf und eine fragwürdige Behauptung

Oury Jalloh wird nach einem Streit mit Polizeibeamten festgenommen, auf den Boden gedrückt, gefesselt und in einem Streifenwagen zum Revier gebracht. Dort legt man ihn an Händen und Füßen gefesselt in Zelle 5 auf eine Liege. Wenige Stunden später ist er tot – verbrannt in einer Zelle, die fast vollständig gefliest und mit einer feuerfesten Matratze ausgestattet ist.

Trotz dieser Umstände behauptet die Polizei noch am selben Tag, Jalloh habe das Feuer selbst gelegt. Ein Feuerzeug sei dafür verantwortlich gewesen – ein Gegenstand, der während der ersten Untersuchungen in der Zelle jedoch nicht gefunden wurde. Erst Tage später taucht ein stark verschmorter Feuerzeugrest auf, angeblich in einer Tüte mit Brandschutt. Wie dieses Feuerzeug unbemerkt geblieben sein soll, bleibt bis heute ungeklärt.

20 Jahre Mord an Oury Jalloh

Die Theorie der Selbstentzündung wird von unabhängigen Expert:innen mehrfach widerlegt. Brandexperimente zeigen, dass ein Feuer dieser Intensität in Zelle 5 nur durch einen Brandbeschleuniger wie Benzin möglich gewesen wäre. Auch die Verletzungen Jallohs sprechen gegen die Selbstmordthese: Er erlitt unter anderem einen Nasenbeinbruch, mehrere gebrochene Rippen und einen Schädelbruch – Verletzungen, die eindeutig auf körperliche Gewalt hinweisen.

Doch anstatt diese Hinweise ernsthaft zu verfolgen, verschwinden Beweismittel oder werden manipuliert. Aufnahmen der Tatort-Sicherung weisen Lücken auf. Stromausfälle, die zur Erklärung dienen sollen, haben laut Gutachten nie stattgefunden. Wichtige Spuren werden ignoriert oder erst spät untersucht.

Demonstration zieht von Staatsanwaltschaft zu Polizeirevier

Die diesjährige starke Gedenkdemonstration setzte sich gegen Nachmittag in Bewegung und führte zu einer Zwischenkundgebung zum Gebäude der Dessauer Staatsanwaltschaft. Hier protestierten die Teilnehmer:innen mit dem symbolischen Werfen von Feuerzeugen in den Eingangsbereich der Staatsanwaltschaft und füllten auch den Briefkasten mit Feuerzeugen.

Es wurden die Namen der durch Polizeigewalt ermordeten Menschen gerufen, während die Polizei sich zunächst in das Gebäude der Staatsanwaltschaft zurückzog. Aus einem gekippten Fenster heraus filmten sie daraufhin die vor dem Eingang versammelten Demo-Teilnehmer:innen ab. Danach zog der kämpferische Protestzug weiter am Dessauer Justizgebäude vorbei zum Stadtpark, wo Alberto Adrianos gedacht wurde, der im Jahr 2000 von drei Neonazis so brutal verprügelt wurde, dass er kurze Zeit später an seinen Verletzungen verstarb.

Danach zog der Gedenkzug weiter vor das Polizeirevier, in dem Oury verstarb. Dort positionierten sich die Teilnehmer:innen der Demo vor dem Haupteingang des Reviers mit diversen Transparenten. Sie trugen Aufschriften wie „Kein Vergeben – Kein Vergessen. Oury Jalloh – Das war Mord! Rassismus geht vom Staat aus. Kampf diesem System!“ oder „Kein Freund, kein Helfer, nur Mörder und Henker.“

Die Rolle der Justiz: Schutz der Täter statt Aufklärung

Der Fall wird schnell zu einem juristischen Fiasko. Bereits 2005 wird gegen zwei Polizisten Anklage erhoben: gegen den diensthabenden Gruppenleiter und einen der Festnehmenden. Doch 2008 spricht das Landgericht Dessau beide frei. Der Richter bemängelt zwar eine systematische Behinderung der Ermittlungen, verzichtet jedoch auf Konsequenzen.

Nach einer Neuverhandlung wird der Dienstgruppenleiter 2012 zu einer Geldstrafe wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Das Gericht nimmt weiterhin an, Jalloh habe das Feuer selbst gelegt – eine Version, die trotz zahlreicher Widersprüche und erdrückender Gegenbeweise durchgesetzt wird. Alle weiteren Bemühungen der Familie, darunter ein Klageerzwingungsverfahren 2019 und eine Verfassungsbeschwerde 2022, bleiben erfolglos. Und auch das Bundesverfassungsgericht weist im Februar 2023 mit seinem endgültigen Urteil den Straftatbestand eines Mords im Fall Jalloh zurück.

Rechtsanwältin Gabriele Heinecke, welche die Familie Jallohs vor Gericht vertrat, hatte wiederholt darauf aufmerksam gemacht, wie Polizei und Staatsanwaltschaft die Ermittlungen manipulierend beeinflussten. Sie kritisierte das plötzliche Auftauchen des Feuerzeugs, verschwundene Beweismittel und das offensichtliche Desinteresse an einer tatsächlichen Aufklärung des Mords.

Saliou Diallo, der Bruder von Oury Jalloh, reichte daraufhin am 3. Juli 2023 mit Unterstützung der Initiative und Kommission eine Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein. Die Klage wurde abgelehnt, da die 4-monatige Frist, die am 2. Juli 2023 endete, um einen Tag überschritten war. Ein vermutlicher Irrtum der Anwältin, die eine Fristverlängerung wie im deutschen Recht annahm, hatte wohl zu der Verzögerung geführt.

Rassismus und Einschüchterung gegen die Hinterbliebenen

Oury Jallohs jüngerer Bruder berichtet auf der Gedenkdemonstration zum 20. Jahrestag von den einschneidenden Diskriminierungs- und Repressionserfahrungen der Hinterbliebenen von Oury durch die Staatsanwaltschaft Dessau: „Mein Bruder wurde nach nur einer Woche zur Bestattung freigegeben, unser Recht, eine Nebenklage einzureichen, stand unter permanenter Schikane der Behörden. Uns wurden sogar 5.000 Euro angeboten, um auf eine Einreichung einer Nebenklage zu verzichten, was wir natürlich entschieden ablehnten.“, berichtet Diallo.

Er fährt fort, dass unmittelbar nach dem Tod das Dessauer Gericht die Ausweispapiere der Familie Oury Jallohs und den damit einhergehenden Aufenthaltsstatus in Frage stellte und einer Prüfung unterzog. Es habe von behördlicher Seite geheißen, „sie entsprächen nicht den deutschen Anforderungen“. Diallo sagt: „Wir kämpfen seit jenem Zeitpunkt für Gerechtigkeit in Ourys Fall, doch diese missbräuchlichen Maßnahmen gegen uns und etliche Falschdarstellungen haben unseren Schmerz zusätzlich vergrößert.“

Bundesweite Aktionen

Neben gemeinsamen Anreisen aus Berlin, Leipzig, Halle und Hamburg zu der zentralen Demonstration in Dessau kamen auch in anderen Städten Menschen zusammen, um des Mords an Oury Jalloh zu gedenken.

In Hamburg Altona fanden sich am Abend des 7. Januar etwa 30 Personen zusammen, um an der Gedenkkundgebung der Föderation Klassenkämpferischer Organisation (FKO) und Young Struggle teilzunehmen. In den Reden wurde betont, dass Polizeigewalt und auch Morde wie der an Oury Jalloh keine Einzelfälle seien.

Auch in Freiburg folgten etwa 60 Menschen dem Aufruf der FKO und versammelten sich am Platz der Alten Synagoge. Eine Stunde zuvor hatte sich bereits spontan eine kleine Gruppe an Menschen zusammengefunden und war mit Parolen durch die Innenstadt gezogen. Bei der Gedenkkundgebung auf dem Platz der Alten Synagoge wurde neben einer Schweigeminute in verschiedenen Redebeiträgen auf die systemischen Probleme von (rassistischer) Polizeigewalt eingegangen: „Für uns alle ist klar: So kann es nicht bleiben, und wir müssen selbst etwas an diesem kranken System, das diese Gewalt immer wieder hervorbringt, verändern!“

Das Polizeirevier mit tödlicher Tradition

Ein systematisches Morden im Dessauer Polizeirevier scheint einer Kontinuität zu folgen. Das gilt auch für die Fälle von Hans-Jürgen Rose und Mario Bichtemann, die beide nach Kontakt mit dem Polizeirevier Dessau unter ungeklärten Umständen starben: Hans-Jürgen Rose erlag 1997 schweren inneren Verletzungen, die er mutmaßlich während seines Aufenthalts im Revier erlitt. Mario Bichtemann kam 2002 in einer Zelle desselben Reviers durch einen Schädelbasisbruch ums Leben.

Am 28. März 2024 wurden Manipulationen in den Ermittlungsakten zu Hans-Jürgen Rose aufgedeckt. Die Familie Rose hat daraufhin gegen vier ehemalige Polizeibeamte aus Dessau Anzeige wegen Mords erstattet. Beide Fälle werden weiterhin untersucht, und es könnten neue Beweise ans Licht kommen, die eine Wiederaufnahme der Ermittlungen ermöglichen.

Ein weiterer Fall, der die Verstrickungen und möglichen Schutzmechanismen innerhalb der Dessauer Polizei beleuchtet, ist der Mord an der 25-jährigen Li Yangjie im Jahr 2016. Sie wurde von dem Sohn einer Dessauer Polizistin vergewaltigt und ermordet. Die Mutter des Täters verweigerte vor Gericht die Aussage und sorgte mit einem Facebook-Kommentar für öffentliche Empörung, als sie schrieb, sie habe keine Lust, mit „Idioten“ zu reden. Hinzu kommt, dass der Stiefvater des Täters ausgerechnet der Polizeichef von Dessau war. Dieser Fall wirft Fragen nach möglicher Einflussnahme und Vertuschung durch die Polizei auf und reiht sich ein in die bedenkliche Geschichte ungeklärter Vorfälle rund um das Dessauer Polizeirevier.

Ein System der Vertuschung

Der Fall Oury Jalloh ist mehr als ein einzelnes Verbrechen. Er offenbart das systemische Versagen eines Staatsapparats, der seine Polizei und Justiz nicht zur Verantwortung zieht. Statt eine unabhängige Untersuchung zu fördern, schützte die Staatsanwaltschaft von Beginn an die Täter:innen. Hinweise auf Polizeigewalt und Vertuschung – wie das plötzliche Auftauchen des Feuerzeugs oder widersprüchliche Zeugenaussagen der Polizeibeamt:innen – wurden entweder ignoriert oder bagatellisiert.

Die Botschaft ist klar: Die Täter bleiben ungestraft. Und das ist kein Zufall. Denn der Staat, der in solchen Fällen seine Institutionen schützen will, weigert sich damit, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Oury Jalloh – das war Mord. Und der Mord bleibt ungesühnt, solange der deutsche Staat seine schützende Hand über die Täter:innen hält.

Esther Zaim
Esther Zaim
Perspektive Autorin seit 2023, aus Hamburg, studierte Geschichtswissenschaft und ihr Fotoapparat ist ihr ständiger Begleiter. Schwerpunkte sind internationale soziale und antifaschistische Proteste, Demonstrationen in Norddeutschland und der kurdische Befreiungskampf.

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