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Zeitung für Solidarität und Widerstand

„Die Kämpfe nehmen die Errungenschaften der Frauenrevolution ins Visier“

Nach dem Sturz des Assad-Regimes durchlebt Syrien massive Veränderungen. Eine besondere Rolle spielen dabei die kurdischen Gebiete im Norden Syriens, in denen Frauen in führenden Positionen vertreten sind. Welche Rolle können sie in der kommenden Zeit spielen? – Ein Interview mit Cîhan Radić von der Kurdischen Frauenbewegung in Deutschland (YJK-E).

Welche Rolle spielt die Frauenbefreiung in der kurdischen Bewegung?

„Die Freiheit der Frau ist der Maßstab einer freien Gesellschaft. Die Gesellschaft kann nur frei sein, wenn die Frauen befreit sind.“ Dieses Zitat von Abdullah Öcalan ist nicht nur ein Ausdruck, sondern eine fundamentale Erkenntnis, welche die Grundlage für die revolutionären Bewegungen in Kurdistan bildet.

Es verdeutlicht, dass die Befreiung der Frauen untrennbar mit der Befreiung der gesamten Gesellschaft verbunden ist. Die Philosophie von Jin Jiyan Azadî (Dt.: Frauen, Leben, Freiheit), die vor mehr als einem Jahrzehnt ihren Ursprung in der kurdischen Freiheitsbewegung fand, basiert auf diesem Prinzip.

Wie stellt sich diese Rolle in Rojava dar?

In Rojava, der autonomen Region im Norden Syriens, sehen wir ein starkes Bewusstsein für die Rolle der Frauen, sowohl im sozialen Leben als auch in der politischen Entwicklung. Die Frauen haben hier eine entscheidende Rolle in der Gestaltung der Gesellschaft und des Widerstands gegen patriarchale Strukturen übernommen. Hierbei wird über die Frage der Geschlechtergerechtigkeit hinaus gegangen – die Frauenbefreiung ist Teil eines umfassenderen, gesellschaftlichen Projekts, das die gesamte Struktur des sozialen, politischen und wirtschaftlichen Lebens in Frage stellt. So wird beispielsweise mit tiefgreifender Bildung für Familien, Frauen und Männer und dem Erlernen von Selbstverteidigung an der Wurzel des Problems des Krieges und jeder sozialer Ungerechtigkeit gerüttelt: dem Patriarchat.

Ein weiterer bemerkenswerter Aspekt der Frauenrevolution ist der internationale Zusammenschluss von Frauen. In Rojava arbeiten Frauen aus verschiedenen ethnischen und kulturellen Gruppen, darunter Araberinnen, Armenierinnen, Tscherkessinnen und Kurdinnen zusammen, um eine Gesellschaft zu schaffen, die die Trennung von ethnischen und religiösen Grenzen überwindet. Diese Frauen vereinen sich in ihrem Kampf für Freiheit, Gleichberechtigung und Selbstbestimmung und setzen damit ein starkes Zeichen gegen die nationalen und religiösen Spaltungen, die die Region seit Jahrzehnten plagen.

Abdullah Öcalan erklärte mit Bezug auf Rosa Luxemburg für das 21. Jahrhundert: „Entweder Sozialismus oder Barbarei“. Diese Aussage lässt sich heute auch als „Entweder Jin Jiyan Azadî oder männliche Staatsgewalt“ deuten. Die Entwicklung in Syrien und der Nahost-Region zeigt uns, dass dieser Kampf eine entscheidende Rolle für die Zukunft der Region und darüber hinaus spielt.

Wie schätzt ihr die aktuelle Lage in Syrien ein?

Um die Entwicklungen in Syrien richtig zu verstehen, müssen wir auch die Rolle der patriarchalen Kräfte, insbesondere der Türkei und ihrer verbündeten Milizen, betrachten. Diese Kräfte stehen im direkten Gegensatz zu den feministischen und emanzipatorischen Bestrebungen, die in Rojava und anderen Teilen der Selbstverwaltung eine Rolle spielen. Die Auseinandersetzung zwischen diesen Kräften spiegelt einen tieferen Konflikt wider – einen Kampf zwischen zwei Systemen: dem des Patriarchats und der Staatsgewalt auf der einen Seite und dem Streben nach sozialer und politischer Freiheit, das durch Jin Jiyan Azadî repräsentiert wird, auf der anderen.

Seit dem 27. November 2024 haben die hegemonialen Mächte im Nahen Osten einen neuen Plan in Syrien umgesetzt, der das Schicksal der Region beeinflussen wird. So wurden verschiedene Milizen ausgebildet, die von hegemonialen und ausländischen Kräften unterstützt werden, die nun wieder in die Städte, Steppen und Wüsten Kurdistans und Syriens zum kämpfen geschickt wurden.

Die Kämpfe zielen nicht bloß auf das syrische Regime ab, sie sind Teil eines größeren Umgestaltungsplans für ganz Syrien und nehmen die Errungenschaften der Frauenrevolution ins Visier. Diese schnellen Entwicklungen, die sich zum Jahresende abspielten, waren ein Vorbote für das Jahr 2025, das große Veränderungen mit sich bringen wird.

Doch welche Kräfte werden die Kulturen, die Natur und die Zukunft der Gesellschaften Syriens und des gesamten Nahen Ostens schützen können? Diese Frage müssen wir uns stellen, während die Mächte, die diese Kriege führen, nicht nur das Land, sondern auch die Gedanken und den Freiheitswillen der Menschen zu erobern versuchen.

Ein entscheidender Aspekt dieses Konflikts bleibt oft im Schatten: die Haltung der Milizen, die gegen die emanzipatorischen Bestrebungen in Syrien und Rojava kämpfen. Die Syrische Nationale Armee (SNA) und die Hay’at Tahrir al-Sham (HTŞ) vertreten patriarchale Ideologien, die die Rechte der Frauen massiv einschränken. Die SNA, die stark mit der Türkei verbunden ist, schreckte in den von ihr besetzen Gebieten (Afrin, Serekanîye und Gri Spî) nicht vor Vergewaltigungen, Entführungen und Femiziden als Kriegswaffe zurück.

In Gebieten, die von der HTS kontrolliert werden, die eine islamistische Ausrichtung hat, blüht den Frauen eine ebenso schwierige Situation: das streng religiöse Regime, das Frauen jegliche Freiheit in ihrer Selbstbestimmung nimmt, basiert auf dem Fundament der Scharia. So wird angestrebt, dass sich Frauen vollständig verschleiern müssen und kaum Zugang zu Bildung oder Arbeit bekommen werden.

Welche Alternativen gibt es?

Wir sehen: die Versprechen der HTŞ von einer demokratischen Zukunft Syriens sind von einer dunklen Doppelmoral überschattet. Auch die kriminellen Strukturen der SNA stehen im extremen Gegensatz zu den Bestrebungen in der Frauenrevolution, sie könnten nicht weiter entfernt von einer Befreiungsmiliz für Frieden und Ruhe in der Region sein.

Den militärischen Angriffen seitens der SNA und der Türkei auf die Selbstverwaltung setzen wir in der SDF (Syrian Democratic Forces) entschlossenen Widerstand entgegen. So verteidigen Frauen und Männer Schulter an Schulter die Gesellschaften, die Vielfalt der Region, und die Werte der Freiheit. Der unendliche Mut der Frauenkräfte, die vor 10 Jahren im Kampf gegen den IS mit ihrem heroischen Widerstand dem Schrecken und Terror ein Ende setzen konnten, sind wieder gefragt.

Das Aufeinandertreffen dieser unterschiedlichen Kräfte macht die Zukunft Syriens und des Nahen Ostens unsicher und lässt verschiedene Möglichkeiten offen. Doch eines ist sicher: Nur durch die vollständige Selbstbestimmung der Frauen kann ein wirklicher Frieden in der Region erreicht werden. Die Erfahrung in Rojava zeigt, dass die Befreiung der Frauen nicht nur für sie selbst von Bedeutung ist, sondern für die gesamte Gesellschaft und die Verständigung verschiedener Völker. Wenn Frauen in der Lage sind, ihre Rechte wahrzunehmen und ihre Rolle in den Lösungsfindungen, wird das zu einer stärkeren, gerechteren und friedlicheren Zukunft für alle führen.

Der Weg zu einem nachhaltigen Frieden in Syrien und dem Nahen Osten führt daher über die Anerkennung und Förderung der Rechte und Freiheiten der Frauen. Nur dann kann die Gesellschaft als Ganzes wirklich frei und demokratisch sein.

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