In der jüngeren Vergangenheit eskalierten selten so viele Konflikte parallel auf der Welt wie in den letzten Jahren. Über die Zusammenhänge und wie die Arbeiter:innenklasse den Weg raus aus dem Kreislauf von Krisen und Kriegen findet. – Ein Kommentar von Ivan Barker.
„Alles, was im Weltall existiert, ist die Frucht von Zufall und Notwendigkeit.“ Dieser Satz wird dem griechischen Philosophen Demokrit zugeschrieben. Mit Notwendigkeit meinte er dabei weder göttliche Bestimmungen noch ein unveränderliches Schicksal, sondern den Zusammenhang von materiellen Ursachen und Folgen.
Umso komplexer die Erscheinungen und Ereignisse auf der Welt sind, umso schwieriger ist es für uns, zwischen Zufall und Notwendigkeit zu unterscheiden. Häufig steckt auch beides in derselben Sache: Dass der Konflikt um die Ukraine gerade im Februar 2022 eine neue Qualität erreicht hat, mag auf lange Sicht zufällig gewesen sein. Eine Eskalation an der Grenze zwischen US-amerikanischem Einflussgebiet und Russland wurde aber aufgrund der sich entwickelnden Widersprüche zwischen den Mächten zu einer Notwendigkeit.
Ein Krieg nach dem anderen
Der imperialistische Krieg um die Ukraine wurde zu einem Ausgangspunkt für zahlreiche weitere Veränderungen auf der Welt. Er traf dabei zudem einen Zeitpunkt, an dem sich viele Länder noch nicht von der letzten großen kapitalistischen Krise erholen konnten.
Die USA wurden in ihrem größeren Rückzug aus Europa – und ihrer damit einhergehenden Schwerpunktverlegung auf den Konkurrenzkampf gegen China – ausgebremst. China selbst konnte seine Position durch die Schwächung Russlands in Asien, aber auch in Afrika stärken. In Deutschland rief Bundeskanzler Olaf Scholz die „Zeitenwende“ aus, die der Start einer weiter andauernden Aufrüstungs- und Militarisierungsoffensive war. Durch Sanktionen gegen Russland und die Sprengung der Erdgas-Pipelines Nord Stream 1 und 2 schossen zudem die Energiepreise in die Höhe, da das billige russische Gas ausblieb.
Die größere Distanzierung von EU-Ländern gegenüber Russland hatte auch Folgen für Staaten, auf die sowohl die EU und die NATO (inklusive USA) als auch Russland Einfluss ausüben. So spitzt sich die Auseinandersetzung zwischen pro-europäischen und pro-russischen Kräften unter anderem in Georgien und Moldau zu.
Neben innenpolitischen Auswirkungen in verschiedenen Ländern trug der Ukraine-Krieg auch zur Eskalation anderer internationaler Konflikte bei: So eroberte 2023 Aserbaidschan innerhalb weniger Tage die Region Bergkarabach, in der bis dahin mehrheitlich Armenier:innen lebten, die Aserbaidschan aber schon lange für sich beansprucht. Armenien wurde zuvor von Russland unterstützt, aber aufgrund der geschwächten Stellung Russlands schnell fallen gelassen. Unterstützt unter anderem von der Türkei, den USA und Deutschland hatte Aserbaidschan freie Bahn. Potential für eine weitere Eskalation besteht weiterhin, da Aserbaidschan auch armenisches Staatsgebiet für sich beansprucht.
Russland als Machtstütze fehlte ebenfalls dem langjährigen Machthaber Baschar al-Assad, als sein Regime im Dezember 2024 durch die militärische Offensive der fundamentalistischen Miliz Hayat Tahrir al Sham (HTS) und der mit der Türkei verbündeten Syrischen Nationalarmee (SNA) gestürzt wurde. Seit vielen Jahren unterhält Russland mehrere Militärstützpunkte in Syrien und unterstützte Assad unter anderem mit Waffenlieferungen, um russische Interessen in der Region durchzusetzen. An der Macht halten konnten sie ihn aber nicht.
In keiner direkten Folge – aber trotzdem als zentraler Bestandteil der internationalen Politik – steht außerdem der Krieg und die Angriffe Israels gegen Gaza, den Libanon und den Iran. Nach dem Angriff auf Israel unter Führung der Hamas am 7. Oktober 2023 entbrannte ein weiterer Krieg mit ähnlich weitreichenden Auswirkungen und Konsequenzen auf die Weltlage wie der Krieg um die Ukraine.
Die Wurzel: Kapitalismus
Vorherzusagen waren viele dieser Abläufe so nicht. Aber auch wenn wir nicht immer vollständig prophezeien können, welcher Krieg welchen anderen Konflikt beschleunigen wird, bringt die Gesellschaft, in der wir leben, gesetzmäßig dieses Leiden hervor.
Überall auf der Welt ist heute der Kapitalismus die vorherrschende Produktionsweise. Noch dazu befinden wir uns in einer weiter entwickelten Phase des Kapitalismus, dem Imperialismus, in dem riesige Monopole bestehen, die sich die Politik der Staaten unterordnen und ihren Konkurrenzkampf um maximale Profite auf der ganzen Welt führen. Der Markt, für den produziert wird, ist heute ein Weltmarkt. Aber es ist nicht nur Welthandel, sondern auch Weltproduktion: Produktionsketten sind globalisiert, sodass ein Produkt heute in den seltensten Fällen nur in einem Land hergestellt wird, sondern zahlreiche Fertigungsschritte an verschiedenen Orten durchläuft. Auch die Rohstoffe, die Energie für die Maschinen usw. können aus unterschiedlichen Teilen der Welt kommen.
Diese Ausgangslage verschärft auch den internationalen Konkurrenzkampf unter den Monopolen. Dabei kann dieser Kampf mit allen möglichen Mitteln geführt werden: friedlich, durch Diplomatie, durch Wirtschaftsverträge oder ähnliches. Und wenn es für die Durchsetzung der Interessen notwendig wird – auch militärisch.
Ebenfalls Bestandteil dieser Auseinandersetzungen sind zahlreiche wirtschaftliche, militärische und politische Bündnisse. Sie sorgen dafür, dass eine Krise oder ein Krieg in einer Region zahlreiche Kettenreaktionen auslösen kann: Der Artikel 5 der NATO, der den sogenannten „Bündnisfall” ausruft, sollte eines der NATO-Mitglieder angegriffen werden, ist dabei ein Beispiel für eine mögliche, sehr direkte Folge.
Die Abläufe sind aber nicht immer automatisch, und Zusammenhänge können auch weniger direkt sein. Widersprüchliche Interessen und Veränderungen in den Machtverhältnissen zwischen Monopolen und Staaten können außerdem jederzeit zu Reaktionen führen, mit denen wir nicht gerechnet haben.
Trotzdem können wir uns auf Grundlage der wirtschaftlichen und politischen Zusammenhänge einen Überblick verschaffen. Es ist nicht den Expert:innen in bürgerlichen Denkfabriken vorbehalten, die Vorgänge von Kriegen und Krisen zu verstehen.
Für uns als Arbeiter:innen ist es umso wichtiger, uns damit zu beschäftigen. Denn nur, wenn wir verstehen, was der Ursprung von Kriegen und Krisen ist und wie sie miteinander zusammenhängen, können wir auch eingreifen. Dann werden wir von den Leidtragenden zu denjenigen, die diesem System ein Ende machen.
Wer trägt die Last?
Krisen und Kriege verschlechtern die Lage vor allem für diejenigen, die sowieso schon zu den Unterdrückten und Ausgebeuteten dieser kapitalistischen Gesellschaft gehören: Im Krieg um die Ukraine sind es die ukrainischen Arbeiter:innen, die vor allem für die Sicherung der Vorherrschaft der USA und der europäischen Mächte sterben. Auf der anderen Seite werden die russischen Arbeiter:innen für ihre Herrschenden im Kampf gegen den Abstieg Russlands zur Regionalmacht in den Tod geschickt.
In Regionen wie dem Gazastreifen oder dem Libanon leiden ebenfalls diejenigen, die schon vorher unter den schwierigsten Bedingungen leben mussten. Dass es dem Staat Israel um einen Völkermord an den Palästinenser:innen und die Vernichtung seiner Gegner mit fast allen Mitteln geht, beweist er tagtäglich. Dazu schreckt er auch nicht vor brutalem Vorgehen gegen die eigene Bevölkerung zurück, wenn z.B. israelische Arbeiter:innen es wagen, gegen den Krieg zu demonstrieren.
Ebenso treffen in Deutschland die Auswirkungen dieser Kriege die Arbeiter:innenklasse, auch wenn hier noch keine Bomben fallen und keine feindlichen Panzer über die Grenze rollen. Zugleich sollen wir davon begeistert sein, wenn mit deutschen Waffen der Krieg in der Ukraine oder in Gaza geführt wird. Davon profitieren jedoch vor allem die Eigentümer:innen von Unternehmen wie Rheinmetall: Laut dem Konzernchef Armin Papperger erleben sie ein Wachstum, wie sie es noch nie hatten: Der Umsatz 2024 wird vermutlich bei rund zehn Milliarden Euro liegen, in einigen Jahren sei mit 20 Milliarden zu rechnen.
Während sich Kapitalist:innen mit Waffen eine goldene Nase verdienen, steigen für die Arbeiter:innen die Preise und die Mieten. Gleichzeitig sinken oder stagnieren die Löhne. Und auch Unternehmen, die aufgrund gestiegener Energiepreise und verkleinerter Absatzmärkte in der Krise stecken – wie derzeit VW oder Bosch – haben vor allem das Problem, ihren Eigentümer:innen schmalere Profite einzubringen. Auch hierfür ist die kapitalistische Produktionsweise ursächlich, die nicht daran orientiert ist, existierende Bedürfnisse zu erfüllen und zum Beispiel nur so viele Autos zu produzieren, wie auch tatsächlich gebraucht werden. Stattdessen produzieren alle so viel, dass möglichst viel Geld in die Hände einiger weniger befördert werden kann. Wenn das nicht mehr funktioniert, müssen aber nicht die Kapitaleigner:innen dafür bezahlen, sondern die Arbeiter:innen.
Die größte Gefahr für die Arbeiter:innenklasse in Deutschland sind nicht eine bevorstehende russische Invasion oder Geflüchtete aus dem Libanon oder Syrien. Es sind die Kapitalist:innen, allen voran diejenigen im eigenen Land, die auf unsere Kosten leben.
Unseren Klassenstandpunkt einnehmen
Es ist also entscheidend, von welchem Standpunkt aus wir uns die Ereignisse auf der Welt ansehen: Bleiben wir in der Perspektive der Kapitalist:innen stecken, könnte man denken, dass es deutschen Unternehmen gut gehen muss, damit es den Arbeiter:innen gut geht. Geht man noch einen Schritt weiter, könnten wir auch davon ausgehen, dass es den Arbeiter:innen desto besser geht, in je mehr Kriegen Deutschland auf der Gewinnerseite steht. Dass jedes Versprechen eines Kriegs der Herrschenden gegen ihre Konkurrenz uns das genaue Gegenteil beschert hat, hat vor allem die deutsche Geschichte oft genug bewiesen.
Die Frage, welcher Klasse etwas nützt, wird heute aber in den meisten Fällen verwischt. Es ist klar, dass die wenigen Kapitalist:innen die große Zahl der Arbeiter:innen nicht für sich gewinnen können, wenn sie ehrlich auftreten. Dafür haben sie ihre Politiker:innen, ihre Denkfabriken, Zeitschriften usw.: die sollen uns vermitteln, dass es nur „uns Deutsche“ oder wahlweise „uns Europäer:innen“ gäbe, die alle ein großes gemeinsames Interesse hätten. Als Arbeiter:innenklasse haben wir stattdessen aber ein gemeinsames Interesse mit allen Arbeiter:innen – egal in welchem Land der Welt.
Wie die Arbeiter:innenklasse den Ausweg findet
Um wirklich aus dem Kreislauf von Krisen, sich zuspitzenden Konflikten und Kriegen herauszukommen, ist es notwendig, mit dem Märchen der gemeinsamen Interessen von Unternehmen und Arbeiter:innen aufzuräumen.
Dazu kommt, dass auch der Staat keine neutrale Stelle ist, die nur Vermittler spielt. Er ist ein Werkzeug, zum Beispiel wenn er Sondervermögen für die Bundeswehr beschließt. Das Geld, dass der Staat über Steuern vor allem von den Arbeiter:innen einsammelt, wird für einen Einkauf bei Rüstungsunternehmen in die Hand genommen, der wiederum für die Bundeswehreinsätze im Sinne des deutschen Kapitals nötig ist.
Die Lösung ist, als Arbeiter:innen aller Länder unsere Interessen zu kennen, sie zu verteidigen und darüber hinaus für ihre konsequente Durchsetzung zu kämpfen. Die gesellschaftliche Alternative zum Kapitalismus ist und bleibt der Sozialismus, ein System, das auf der Macht der Arbeiter:innen und damit der Produzent:innen unseres gemeinsamen Reichtums beruht. Eine sozialistische Gesellschaft kann die Notwendigkeit von Krisen und Kriegen beseitigen, denn sie ist nach den Bedürfnissen ihrer Bevölkerung ausgerichtet – und nicht nach den Profiten einiger weniger. Sie hat keinen Nutzen von der Hetze gegen andere Nationen oder der Ausbeutung anderer Länder, sondern ist auf das solidarische Zusammenwirken aller Arbeiter:innen angewiesen.
Diese Gesellschaft wird uns aber nicht geschenkt. Und auch nach einem möglichen nächsten Weltkrieg werden die Kapitalist:innen keine Einsicht zeigen, dass sie diejenigen sind, welche die Menschen immer wieder in dieses Elend bringen. Für den Sozialismus braucht es eine Revolution, und dafür braucht es die organisierte Kraft der Arbeiter:innen – gemeinsam in einem Land, sowie über Ländergrenzen hinweg in internationaler Solidarität.
Das Erreichen dieser vielleicht noch weiter entfernten Zukunft ist ebenfalls eine Notwendigkeit, aber kein Automatismus. Dafür müssen wir als Arbeiter:innen unseren Beitrag leisten. Und am besten warten wir damit nicht auf den nächsten Krieg vor unserer Haustür, sondern fangen heute an.
Dieser Text ist in der Print-Ausgabe Nr. 94 vom Januar 2025 unserer Zeitung erschienen. In Gänze ist die Ausgabe hier zu finden.