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Neuordnung in Westasien: In welche Richtung steuert das „Neue Syrien”?

Am 8. Dezember 2024 ist das Assad-Regime in Syrien kollabiert. Die neue Führung in Damaskus ist von fundamentalistischen Gruppen geprägt, während eine türkische Invasion die Selbstverwaltung von Rojava im Nordosten bedroht. Seitdem ist die Zukunft des Landes ungewiss. – Ein Kommentar von Ali Najjar.

Es dauerte zehn Tage vom Beginn einer groß angelegten Offensive Ende November im Nordwesten Syriens bis zum Einmarsch verschiedener Rebellengruppen in die Hauptstadt Damaskus. Mit dem Sturz der Assad-Familie und der Gründung einer Übergangsregierung unter Führung der HTS (Hayat Tahrir al Sham, dt. Komitee zur Befreiung der Levante) hat der Anführer dieser Gruppe, Abu Muhammad al-Joulani, nun seinen für djihadistische Kreise typischen Kampfnamen abgelegt und tritt unter seinem bürgerlichen Namen Ahmed al-Sharaa auf. HTS ging aus dem Al-Qaida-Ableger in Syrien hervor, der bis 2016 bestehenden und von al-Joulani gegründeten Nusra-Front.

Die Gruppe fährt schon seit mehreren Jahren eine Imagekampagne und betont, eine politische Neuausrichtung vorgenommen zu haben. Man sei abgerückt von der Al-Qaida-Strategie des „globalen Jihad” und habe sich eine national ausgerichtete Programmtik gegeben. Entsprechende Signale wie al-Joulanis Namenswechsel oder Stellungnahmen in Richtung ethnischer und religiöser Minderheiten, die ihnen ihre Rechte und ihre Teilhabe an einer neuen Ordnung zusichern, werden aktuell auch in der medialen Öffentlichkeit der westlichen Länder registriert. Sie geben Aufschluss darüber, in welche Richtung sich das „Neue Syrien” orientieren könnte – eine Region, die von hoher Bedeutung für verschiedene imperialistische Mächte ist.

Dass sich die HTS in ein bürgerlich-nationales Gewand kleidet, dient durchaus einem sehr realen Zweck. Das sollte jedoch nicht als ein „moderater Wandel” verklärt werden. Vielmehr signalisiert die Gruppe, die sich aktuell zur neuen führenden Macht in Syrien aufschwingt und dabei an ihrer fundamentalistischen Ideologie festhält, hier ihre Bereitschaft, sich möglicherweise zum verlässlichen Partner des Imperialismus zu machen.

Türkei im Norden, Israel im Süden

Syrien ist zwar im Vergleich zu anderen Ländern der Region nicht besonders reich an Ressourcen, dafür aber geostrategisch sehr günstig gelegen und deshalb von hohem Interesse für verschiedene imperialistische Mächte.

Der Sturz der Assad-Regierung ist zum einen ein Rückschlag für russische imperialistische Interessen. Russland hielt seit 2015 das Assad-Regime durch militärische Schlagkraft am Leben und besaß unter anderem eine Marine- und eine Luftwaffenbasis an der syrischen Mittelmeerküste. Dieser Zugang zum Mittelmeer war von hoher Wichtigkeit für Russland, da von hier aus zum Beispiel imperialistische Unternehmungen in Afrika koordiniert werden konnten. Ebenfalls als Verlierer des syrischen Bürgerkriegs muss der Iran betrachtet werden, der über Syrien die Verbindung zur Hisbollah-Miliz aufrechterhalten hat. Syrien und die Verbindung zum Assad-Regime waren für den Iran ein wichtiges Element der sogenannten „Achse des Widerstands”, mit der er seinen Einfluss als Regionalmacht ausbauen wollte.

Tatsächlich hat der spektakuläre Zusammenbruch von Assads Syrien gezeigt, dass es insbesondere die russische Luftwaffe und vom Iran organisierte Milizen aus verschiedenen Ländern waren, die das Regime halbwegs stabilisierten und verhinderten, dass es schon 2016 gestürzt wurde.

Russlands militärische Kräfte sind jedoch durch den Ukraine-Krieg gebunden und der Iran ist infolge des Kriegs in Westasien strategisch geschwächt. Das Assad-Regime entpuppte sich als Papiertiger. Zwischenzeitlich hat Russland seine Kriegsschiffe aus Syrien abgezogen.

Währenddessen gehen Israel und die Türkei in die Offensive: Israel hat vom besetzten Golan aus weitere Gebiete eingenommen. Diese kann es als Druckmittel gegen eine künftige syrische Führung benutzen, um für „Ruhe” an Israels Nordgrenze zu sorgen. Gleichzeitig hat die israelische Regierung vermehrte Investitionen und die Besiedlung des nördlichen Besatzungsgebietes angekündigt.

Die Türkei begann bereits 2018, mit Hilfe von Söldnertruppen aus Milizen der Opposition und fundamentalistischen Banden eine Besatzung im Norden zu errichten und hat zahlreiche, dort lebende Kurd:innen vertrieben. Seit dem Beginn der jüngsten Offensive haben genau diese Söldnertruppen weitere Angriffe auf die kurdischen Selbstverwaltungsgebiete in Rojava (Nordost-Syrien) gestartet und setzen damit türkische Interessen in die Tat um. Der türkische faschistische Staat hat ein Interesse daran, die Kräfte der Selbstverwaltung zu zerschlagen, da die Form von multiethnischer Selbstverwaltung und kurdischer Autonomie, die in Nordost-Syrien verwirklicht wird, aus Sicht der Türkei eine gefährliche Präzedenz schafft und auch von materiellem Nutzen für revolutionäre Gruppen im Inland wäre. Zudem hegt der türkische Staat die Hoffnung, zahlreiche syrische Geflüchtete im Land in ein halbwegs stabiles Syrien, dessen Grenzen er kontrolliert, abschieben zu können.

Auch für die deutsche Migrationspolitik ist die Lage in Syrien relevant: Hierzulande haben bürgerliche Politiker:innen begonnen, vermehrt Abschiebungen nach Syrien zu fordern und die Ämter haben bereits Asylverfahren von Syrer:innen bis zu einer „Neubewertung” des Landes ausgesetzt. Darüber hinaus ist es keineswegs abwegig, dass deutsche Unternehmen über eine Beteiligung am Wiederaufbau in Syrien Profit schlagen wollen. Wie viele westliche Regierungen ist die deutsche aktuell dabei, diplomatische Beziehungen mit der neuen Führung in Damaskus aufzubauen, wo nun auch die deutsche Botschaft wiedereröffnet wurde. Die HTS-geführte Übergangsregierung hat inzwischen angekündigt, dass es in Syrien ein freies marktwirtschaftliches Modell geben soll.

Die Bedeutung der syrischen Revolution

Die Haltung der neuen syrischen Führung unter Ahmad al-Sharaa alias Abu Muhammad al-Joulani zu all diesen Zusammenhängen lässt sich vor allem an deren spezifischer Untätigkeit ablesen. Diese verrät einiges über die politische Prioritätensetzung dieser Führung, die von westlichen Stimmen in Politik und Medien schon oft als besonders „pragmatisch” gelobt wurde: Die HTS stimmt aktuell besonders siegesbewusste Töne an und lässt verkünden, dass jetzt die Zeit des Aufbaus und der Normalisierung angebrochen sei. Dass Israel in Südsyrien unterdessen weitere Gebiete einnimmt und die Türkei brutal gegen die kurdische Selbstverwaltung vorgeht, wird von der neuen Führung nicht groß skandalisiert.

Es ist in dieser Hinsicht bemerkenswert, dass westliche Regierungen sich bereit zeigen, eine Figur wie al-Sharaa/Joulani und die Gruppe HTS, die auf diversen internationalen Terror-Listen geführt wird, so schnell zu rehabilitieren. Dazu reicht es anscheinend aus, eine Öffnung des Landes für westliches Kapital und geopolitische Einflussnahme in Aussicht zu stellen.

Diese Politik verrät auch einiges darüber, wie die neue syrische Führung die Bedeutung der syrischen Revolution versteht und auf welchen Pfad sie sie bringen will: Aus ihrer Perspektive ist mit dem Sturz Assads das Haupt- und Endziel erreicht. Darüber hinaus sieht man wenig Anhaltspunkte dafür, dass aus Damaskus Widerstände gegen eine Integration in die imperialistische Architektur der Region kommen werden. Aus diesem Grund muss der Anspruch der HTS, die revolutionären Kräfte und demokratischen Forderungen des syrischen Volkes zu repräsentieren, zurückgewiesen und abgelehnt werden.

Die Kräfte der Selbstverwaltung in Nordost-Syrien hatten es geschafft, sich über die langen Bürgerkriegsjahre hinweg als eigenständige dritte Partei aufzubauen. In den Gebieten östlich des Euphrats waren insbesondere kurdische Kämpfer:innen und Parteien führend darin, sich nicht nur eine politische Autonomie zu erkämpfen, sondern auch Schritte zur Formung einer anderen Gesellschaft zu gehen: Hier wurden eine neue demokratische Kultur gefördert und demokratische Institutionen errichtet, die einer pluralen und multireligiösen Gesellschaft gerechter werden. Hier wurde der Weg beschritten, das  Patriarchat zurückzudrängen und Frauen in das politische Leben und die militärische Verteidigung gleichberechtigt einzubeziehen. Diese Errungenschaften sind Errungenschaften der Rojava-Revolution, die den höheren Anspruch darauf hat, revolutionäre und progressive Ziele in Syrien verwirklicht zu haben.

Die Rojava-Revolution und die Gebiete der Selbstverwaltung sind heute allerdings nicht nur militärisch durch die Angriffe des türkischen Staats bedroht. Wenn sich der syrische Al-Qaida-Gründer al-Sharaa/al-Joulani tatsächlich als zuverlässiger oder erträglicher Partner für die USA und die europäischen Staaten erwiese, würde dies das bestehende taktische Bündnis der Selbstverwaltung mit dem Westen gefährden oder gar obsolet machen. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) hat die Kurd:innen nach Gesprächen in der Türkei bereits dazu aufgerufen, ihre Waffen niederzulegen und eine demilitarisierte Zone zu errichten. Auf der anderen Seite haben z.B. Israel und die Türkei kein Interesse daran, dass der jeweils andere in Syrien allzu einflussreich wird, und Israel hat sich kürzlich – zumindest verbal – auf die Seite der Kurd:innen geschlagen.

Aus dieser Gemengelage können sich neue taktische Spielräume für die Selbstverwaltung ergeben. Ihre Zukunft und die von ganz Syrien bleibt dennoch ungewiss. Die Kräfte der Selbstverwaltung sehen sich aktuell in die Defensive gedrängt und betonen ihre Dialogbereitschaft sowie ihren Willen, ihr politisches Konzept einer föderalen Ordnung noch enger mit den demokratischen Interessen aller Syrer:innen zu verbinden. In einem symbolisch bedeutsamen Schritt wurde sogar im Dezember die Flagge der ersten unabhängigen syrischen Republik, die 2011 zum Symbol der Oppositionsbewegung wurde, in der Selbstverwaltung anerkannt.

Wer auch hier in Deutschland für eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung kämpfen will, steht in der Verantwortung, einen Beitrag dazu zu leisten, die Errungenschaften der Selbstverwaltung in Nordost-Syrien zu verteidigen. Das Geschehen in Syrien und dieser historische Moment nach dem Sturz Assads für die Völker dort sind nicht weit weg. Mit dem deutschen Imperialismus sind wir hier direkt mit einem Feind konfrontiert, der von der Unterdrückung der Völker profitiert und gegen den wir uns organisieren können. Dabei kann uns die Rojava-Revolution eine Inspiration und ein Vorbild sein.

Dieser Text ist in der Print-Ausgabe Nr. 94 vom Januar 2025 unserer Zeitung erschienen. In Gänze ist die Ausgabe hier zu finden.

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