Am 1. November 2024 stürzte das Vordach der frisch renovierten Bahnhofshalle im nordserbischen Novi Sad ein. Dabei kamen 15 Menschen ums Leben. Was nach einem tragischen Unfall klingt, hat für viele Serb:innen System. Sie machen die korrupte Politik des serbischen Staates verantwortlich und dabei insbesondere den faktisch alleinregierenden Präsidenten Aleksandar Vučić.
Seit dem Einsturz des Vordachs kommt es im gesamten Land zu Protesten, ursprünglich initiiert durch Studierende. Jedoch haben sich die Demonstrationen schnell zu Massenprotesten gewandelt. In der vergangen Woche wurde zum Generalstreik ausgerufen. Am Montag erst blockierten die Protestierenden für einen Tag lang das wichtigste Autobahnkreuz der Hauptstadt Belgrad.
Die Demonstrierenden fordern unter anderem Transparenz und Aufklärung zum Einsturz des Bahnhofsdaches. Dazu gehören etwa die Veröffentlichung aller Dokumente zur Renovierung des Gebäudes durch ein chinesisches Konsortium und die Rücktritte aller Verantwortlichen des Umbaus. Sie sehen im Präsidenten Vučić den Kopf eines korrupten und autoritären Systems, das auf Kosten der Bevölkerung eine kleine Wirtschaftselite zu großem Reichtum bringt.
Ziel ist der Sturz von Vučić
Aleksandar Vučić ist Gründungsmitglied der neoliberalen und nationalistischen „Serbischen Fortschrittspartei“ und seit 2017 Staatspräsident. In seine bisherige Amtszeit fällt eine Vielzahl von Protestwellen. In 2022 etwa stellten sich Zehntausende Menschen den Plänen des Monopolkonzerns „Rio Tinto“ zum umweltschädlichen Lithiumabbau entgegen. Bis heute konnte der Lithiumabbau dort nicht gestartet werden. Als Reaktion auf zwei Amokläufe kam es ab Mai 2023 außerdem zu Anti-Regierungsprotesten in ganz Serbien. Als Antwort darauf ließ Vučić die Parlamentswahlen vorziehen, die dann wiederum wegen Wahlfälschung teilweise wiederholt werden mussten.
Die aktuellen Proteste versuchen Präsident Vučić und seine Anhänger:innen einerseits mit kleineren Zugeständnissen, andererseits mit teils massiver (Polizei-) Gewalt einzudämmen. So fuhren mehrmals Autos gezielt in Demonstrierende oder es kam zu direkten körperlichen Angriffen von Mitgliedern der Regierungspartei auf Studierende, etwa mit Baseballschlägern.
Der Kampf geht weiter
Die aktuelle Protestwelle jedoch übersteigt die vorherigen nicht nur in ihrem zahlenmäßigen Ausmaß. Vučić sieht sich weiterhin zum Handeln gezwungen und hofft mit dem Rücktritt des serbischen Ministerpräsidenten Miloš Vučević Ruhe in das Land zu bekommen. Vučević begründete seinen Rücktritt am Dienstag unter anderem mit dem körperlichen Angriff von Anhängern der Regierungspartei auf Protestierende, bei dem eine Studentin schwer verletzt wurde. Gleichzeitig diskreditiert er die Proteste mit dem Vorwurf, sie seien „aus dem Ausland gesteuert“.
Die Demonstrationen gehen auch nach dem Rücktritt Vučevićs weiter und haben ein klares Ziel: der Sturz des Präsidenten Vučić. Denn der Rücktritt des Ministerpräsidenten ist wie auch die vorgezogene Parlamentswahl in 2023 eine Maßnahme, die den Präsidenten Vučić und sein korruptes System im Zusammenspiel von Politik, Wirtschaft und Medien aufrechterhält. Häufig tauschte Vučić in den vergangenen Jahren Politiker:innen im System aus, um das dann als Reform verkaufen zu können.
Die Studierendenproteste haben also die Regierung zum Handeln gezwungen und konnten damit einen ersten Teilerfolg feiern. Das zeigt, wie viel Macht studentischer Protest entwickeln kann. Durch das Ausmaß der aktuellen Proteste scheint das „System Vučić“ gefährdet wie nie zuvor. Die Demonstrierenden jedenfalls gehen weiterhin nach dem Motto „Eure Hände sind blutig“ auf die Straße und kämpfen für eine bessere Gesellschaft.