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Viel Bewegung in Syrien: Auch Deutschland wittert Chancen

In Syrien formiert sich eine neue Regierung. Nun, wo sich die imperialistischen Mächte neu positionieren, Lager neu gebildet werden und das gebeutelte Land wieder aufgebaut werden soll, wollen auch deutsche Kapitalist:innen in Syrien profitieren. Der deutsche Staat versucht, einen Weg zu bahnen. – Ein Kommentar von Mohannad Lamees.

Der Dezember brachte für Syrien das Ende des Assad-Regimes. Nun stehen mit der Hayat Tahrir Al-Sham (HTS) scheinbar gebändigte islamische Fundamentalisten an der Spitze einer neuen Regierung. Doch das Versprechen eines freien Syriens, das vor wenigen Wochen noch bei vielen Menschen große Hoffnung auslöste, offenbart Stück für Stück seinen eigentlichen Charakter: Statt der Bevölkerung taktieren in Syrien derzeit die imperialistischen Mächte um ihre Einflussgebiete und strategischen Ziele. Die demokratische Revolution, für die Millionen von Syrer:innen seit 2011 kämpfen, ist durch den Triumph der HTS aber kaum näher gerückt.

Syrien: Assad gestürzt, Regionalmächte verhandeln, SDF rufen Ausnahmezustand aus

Ja, es ist gut, dass Assad endlich gestürzt ist. Und ja, für viele Syrer:innen bringt die neue Regierung Erleichterung. Auch der jüngst von der HTS-Regierung zum Ausdruck gebrachte Wille zur Auflösung derjenigen Geheimdienste, die über Jahrzehnte die eigene Bevölkerung mit Repression belegt und unter Assad Teil des blutigen Bürgerkriegs waren, ist für viele Syrer:innen sicherlich eine gute Nachricht. Doch was wir derzeit in Syrien sehen, ist gleichzeitig ein weiteres Lehrstück darüber, wie sich imperialistische Mächte die Welt aufteilen.

USA und Israel anstatt Russland und Iran?

Der Zeitpunkt für den Siegeszug der HTS war gut gewählt: Die Regierungstruppen des Assad-Regimes zogen sich schnell zurück. Auch iranische und russische Streitkräfte hatten den Milizen, die seit mehreren Jahren im Nordwesten Syriens – wohl mit Unterstützung durch die Türkei und westlicher Kräfte – in einer Enklave an Stärke gewonnen hatten, nichts entgegenzusetzen. Russlands Kräfte sind derzeit noch vor allem im Ukraine-Krieg gebunden, der aber mit dem Amtsantritt von Donald Trump in wenigen Wochen einen neuen Charakter bekommen könnte. Das iranische Regime wiederum ist einerseits durch freiheitliche Bewegungen im Innern und andererseits durch die Auseinandersetzungen der eigenen Verbündeten mit Israel schwach aufgestellt.

Dass die HTS-Miliz und die von der türkischen Regierung unter Erdogan aufgestellten Söldnertruppen der Syrischen Nationalen Armee (SNA) im Dezember zeitgleich das syrische Assad-Regime und die kurdische Selbstverwaltung angriffen, legt außerdem nahe, dass es Absprachen und Planungen zwischen diesen Kräften gegeben hat. Womöglich wurde dieser gemeinsame Plan während des Besuchs des neuen NATO-Generalsekretärs Mark Rutte in der Türkei und seines Treffens mit mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan Ende November abschließend diskutiert. Die USA an der Spitze der NATO-Kräfte, aber auch viele europäische Staaten wie Frankreich, Großbritannien und nicht zuletzt Deutschland waren dementsprechend schnell bereit, die HTS-Milizen, die vor wenigen Jahren noch offen Al-Qaeda die Treue geschworen hatten, als Befreier Syriens zu feiern. Solange der russische Einfluss in Syrien und die iranische Präsenz zurückgedrängt wird, sehen die westlichen Staaten derartige „Fehltritte“ gerne nach.

Machtübernahme in Syrien: NATO weitet Einfluss aus

Mit der Anerkennung der HTS-Regierung wandelt sich Syrien nun – auch wenn die HTS betont, dass Syrien strategische Interessen mit Russland verfolge – von einer Bastion russischer und iranischer Kräfte zu einem Teil einer neuen Allianz von NATO-nahen Staaten in Westasien. Darunter die Türkei, aber auch Saudi-Arabien und nicht zuletzt Israel. Gerade für Israels regionale Machtansprüche ist die Neuordnung in Syrien Teil eines größeren Ausbaus der eigenen Vorherrschaft: Seit dem 7. Oktober ist es Israel mit den Angriffen auf Palästina, Libanon, Jemen und nun Syrien gelungen, den großen Konkurrenten Iran deutlich zu schwächen und die eigene Präsenz in der Levante auf ein Maß auszubauen, das jegliche vorherige Qualität übersteigt.

Welche Rolle spielt Rojava?

Parallel dazu steht die kurdische Bewegung vor richtungsweisenden Entscheidungen: Im neuen Syrien ist die von kurdischen Kräften geführte Rojava-Selbstverwaltung im Nordosten des Landes isoliert. Die HTS lehnt eine Föderation mittlerweile offen ab und will – unter anderem mit Rückendeckung von Deutschland – die kurdischen Truppen, so wie alle anderen Rebellen auch, entwaffnen. Die USA und Israel fürchten offenbar jedoch gleichzeitig einen zu großen Einfluss der Türkei in der Region und äußern Unterstützung für die Kurd:innen. US-Streitkräfte bauen deshalb derzeit in Rojava einen Stützpunkt auf, um die Autonomie auch gegen türkische Kräfte zu verteidigen.

Offensive auf Nord- und Ostsyrien: Rojava-Revolution verteidigen!

Das geschieht als Teil der größeren US-Strategie in Westasien, Kriegsherde auslöschen zu wollen und die Region durch Regime-Wechsel und unterstützte Autonomien langfristig zu befrieden. Hierfür spielt nicht zuletzt die opportunistische kurdische Verwaltung im Nordirak unter Nechirvan Barzani eine größere Rolle.

Die von Kurd:innen angeführten und weiterhin bewaffneten Kräfte der Syrian Democratic Forces (SDF) sind noch immer in Kämpfe mit den SNA, die von der Türkei finanziert wird, verwickelt und haben offenbar auch die Gebiete, aus denen sie sich beim Vormarsch der HTS vorerst taktisch zurückgezogen hatten, nicht aufgegeben. Die fortschrittlichen Teile der kurdischen Bewegung stehen hier nach wie vor vor der Aufgabe, sich nicht nur gegen die unmittelbare Bedrohung durch türkische Truppen und islamische Fundamentalisten zu stellen, sondern auch die eigene revolutionäre Politik der Selbstverwaltung gegen Einflüsse wie denen von Barzani und anderen Kräften zu verteidigen, die sich dem einen oder anderen imperialistischen Lager unterwerfen.

Was kann man von den „neuen Friedensgesprächen“ zur Lösung der kurdischen Frage erwarten?

Was die Deutschen in Syrien wollen

Inmitten dieser Dynamik besuchen nun die ersten europäischen Außenminister:innen das neue Syrien: Annalena Baerbock und ihr französischer Amtskollege Jean-Noël Barrot mahnen die HTS öffentlich an, für Frieden und Gleichberechtigung zu sorgen. Doch in Damaskus sind die Europäer:innen nicht zuvorderst auf der Suche nach Menschenrechten, sondern neuen Märkten für die jeweils eigenen Großkonzerne.

Für den deutschen Imperialismus geht es dabei vor allem darum, den Anschluss nicht zu verlieren und sich zwischen den verschiedenen Playern in der Region ein Stück vom Kuchen zu sichern und die eigene Präsenz auszubauen. Das von jahrelangem Krieg zerstörte Syrien wird nicht zuletzt mit Milliarden an ausländischen Investitionen wieder aufgebaut werden – die Kapitalist:innen erhoffen sich hier nicht nur neue Absatzmärkte, sondern auch neue billige Arbeitskräfte und eine Steigerung der eigenen Profite.

Im Nachbarland Irak, das ebenfalls Jahrzehnte von religiösen und nationalen Konflikten samt US-Invasion und IS-Herrschaft hinter sich hat, ist in den letzten Jahren durch die Stabilisierung der Zentralregierung und der kurdischen Barzani-Regierung eine „Golden Opportunity” für deutsche Kapitalist:innen entstanden. Dort baut der deutsche Großkonzern Siemens zum Beispiel bereits mehrere Kraftwerke und kämpft mit dem amerikanischen Konzern General Electrics um Großaufträge. Die Deutsche Bahn ist außerdem involviert in das gigantische Infrastrukturprojekt im Irak. Mit ihm soll ein Handelskorridor von Istanbul nach Bagdad aufgebaut werden, über den vor allem Containerladungen über Eisenbahn- und Straßennetzwerke zu den Häfen im Mittelmeer und dem Arabischen Golf transportiert werden sollen.

Auch in Syrien, wo die Lage ähnlich ist, wittern deutsche Konzerne nun Geschäfte: So war Siemens bis zum Beginn des Bürgerkriegs in Syrien im Bereich der Energietechnik aktiv. Werden die vor allem von den USA verhängten Sanktionen für Syrien demnächst tatsächlich aufgehoben, könnte der Konzern wahrscheinlich schnell ähnliche Aufträge wie im Irak an Land ziehen. Der deutsche Staat bahnt dem deutschen Kapital dafür den Weg und wird auch weiterhin mit denjenigen Kräften vor Ort kooperieren, von denen man sich die größte Stabilität und die geeignetste Unterstützung für die eigenen Kapitalinteressen erhofft. Das neue Syrien wird so gleichermaßen zur Spielwiese imperialistischer Mächte wie es das alte Syrien war – nur unter anderer Vorherrschaft.

Mohannad Lamees
Mohannad Lamees
Seit 2022 bei Perspektive Online, Teil der Print-Redaktion. Schwerpunkte sind bürgerliche Doppelmoral sowie Klassenkämpfe in Deutschland und auf der ganzen Welt. Liebt Spaziergänge an der Elbe.

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