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Waffenstillstand in Gaza? Fragezeichen hinter dem Deal zwischen Israel und der Hamas

Am Mittwochabend wurde offiziell verkündet, beide Parteien hätten sich auf einen Deal inklusive Waffenstillstand, Gefangenenaustausch, Truppenabzug und Wiederaufbau geeinigt. Ob und wie tief die Menschen in Gaza durchatmen dürfen, entscheiden derzeit andere. – Eine Einordnung von Lukas Mainzer.

In den letzten Tagen intensivierten sich die Verhandlungen über einen Waffenstillstand im Gazastreifen zwischen Vertreter:innen der Hamas, Israels, Ägyptens, der USA und Katar. Schon vor der offiziellen Verkündung der vorerst abgeschlossenen Verhandlungen gab es übereinstimmende Medienberichte über die Inhalte des Abkommens.

Der Waffenstillstand soll in drei Stufen durchgesetzt werden: In der ersten Stufe ab Sonntag, den 19. Januar, ist eine sechswöchige Waffenruhe geplant. Zu Beginn der Waffenruhe soll sich das israelische Militär aus den bewohnten Gebieten des Gazastreifens zurückziehen. Gleichzeitig sollen 33 israelische Geiseln des Angriffs vom 7. Oktober 2023 und bis zu 2.000 palästinensische Gefangene entlassen werden, darunter wohl auch 250 Häftlinge mit lebenslangen Gefängnisstrafen. Diese dürfen dann jedoch nicht in die Westbank zurück.

Die humanitäre Hilfe für die Bewohner:innen in Gaza soll deutlich hochgefahren werden: Verletzte Personen sollen die Möglichkeit bekommen, sich im Ausland behandeln zu lassen. Zu Beginn des Waffenstillstands soll der südliche Grenzübergang des Gazastreifens nach Ägypten in Rafah für sieben Tage geöffnet werden. Zudem verpflichtet sich das israelische Militär dazu, den sogenannten „Philadelphi Corridor“ an der Grenze zu Ägypten schrittweise zu räumen. Dort hatte der israelische Staat eine militärische Sperrzone errichtet.

Im weiteren Verlauf des Waffenstillstands soll dann über ein Abkommen für die zweite und dritte Phase des Waffenstillstands verhandelt werden. In denen sollen nach aktuellen Planungen dann ein kompletter Truppenabzug und später der Wiederaufbau sowie eine politische Lösung für den Gazastreifen ausgehandelt werden.

Verhandlungen vor dem Faktor Trump

Dass die Verhandlungen über einen Waffenstillstand gerade jetzt zum Abschluss gekommen sind, hängt ohne Zweifel mit der kommenden Einführung Donald Trumps als Präsidenten der USA zusammen. Neben den Vertreter:innen der aktuellen US-Regierung unter Joe Biden nahm an den Verhandlungen beispielsweise erstmals ein Vertreter der kommenden US-Regierung unter Trump teil.

Trump hatte den Menschen in Westasien damit gedoht, dass „die Hölle losbrechen“ werde, wenn die israelischen Geiseln nicht bis zu seiner Amtseinführung am 20. Januar frei seien. Durch die Androhung eines noch heftigeren Krieges war also besonders auch die Hamas gezwungen, einem Abkommen jetzt zuzustimmen.

Der israelischen Regierung unter Benjamin Netanyahu auf der anderen Seite könnte ein Abkommen ebenfalls gelegen kommen: Dem israelischen Militär war es trotz brutalster Angriffe auf den Gazastreifen nicht gelungen, die politischen Ziele Israels umzusetzen. Weder eine Vernichtung der Hamas noch eine stabile Kontrolle über den Gazastreifen, geschweige denn die Befreiung aller Geiseln konnten in den vergangenen 15 Monaten erreicht werden. Das Abkommen bietet also dem israelischen Imperialismus durchaus einen Ausweg aus dieser Sackgasse.

Noch bevor das Abkommen offiziell verkündet wurde, inszenierte sich Trump am Mittwoch schon als Friedensstifter und Retter der israelischen Geiseln. Die zu zehntausenden getöteten Menschen und die katastrophale humanitäre Lage der Menschen in Gaza nach über einem Jahr Genozid spielen in den Aussagen Trumps nach wie vor keine Rolle. Vielmehr spricht er davon, dass Gaza „nie wieder ein sicherer Hafen für Terroristen sein darf“.

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Wie sieht die Zukunft des Gazastreifens aus?

Wie dieser Zustand „ohne Terroristen“ im Interesse von Israel und deren größtem außenpolitischen Partner (den USA) in Gaza langfristig erreicht werden soll, zeigte sich schon vor einem Jahr: Im Januar 2024 sprach der mittlerweile gefeuerte israelische Verteidigungsminister Yaov Gallant davon, dass es „keine Präsenz israelischer Zivilisten im Gazastreifen nach Ende des Krieges“ geben dürfe.

Nach demselben korrupten Modell der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) im besetzten Westjordanland sollen auch im Gaza-Streifen künftig „lokale palästinensische Akteure“ herrschen, die Israel nicht feindlich gesinnt sind. Die PA wurde 2007 durch die Hamas aus dem Gazastreifen vertrieben. Ob sowohl Hamas als auch die aktuelle israelische Regierung einer Regierungsübernahme der PA in Gaza zustimmen werden, bleibt fraglich.

Langsam, aber sicher: Israels Imperialist:innen entscheiden sich für Besatzung des Gazastreifens

Das Konstrukt erinnert an die Oslo-Vereinbarungen von 1993, die den Anfang vom zwischenzeitlichen Ende der palästinensischen Befreiungsbewegung bedeutete: Schon damals hatte sich die Hamas gegen den israelischen Institutionalisierungs- und Integrationsversuch ausgesprochen. Und auf israelischer Seite sind heute offen faschistische Politiker:innen in der Regierung. Auch das dürfte einem solchen Friedens- und Integrationsversuch im Wege stehen.

Für den Wiederaufbau und die mittelfristige Friedenssicherung des Gazastreifens präsentierte die scheidende US-Regierung bereits am Dienstag ihre Pläne: Außenminister Anthony Blinken erklärte, die PA solle internationale Partner:innen einladen, um eine Übergangsregierung aufzubauen. Zudem sollen insbesondere andere arabische Staaten eine militärische Sicherheitsmission bereitstellen.

In den vergangenen Monaten gab es immer wieder Medienberichte, dass trotz heftigster Bombardierungen und Verluste die Hamas im Gazastreifen weiterhin militärisch präsent sei. US-Außenminister Antony Blinken sprach am Dienstag davon, dass die Hamas fast alle getöteten Kämpfer durch neue Rekrutierungen ersetzen konnte.

Wie das Wall Street Journal berichtet, habe die Hamas nun „einen neuen Sinwar“. Und „er baut wieder auf.“ Unter Yahya Sinwars jüngerem Bruder rekrutiere die Hamas neue Kämpfer im Gazastreifen und ziehe Israel in einen Zermürbungskrieg. „Wir befinden uns in einer Situation, in der das Tempo, in dem die Hamas sich wieder aufbaut, höher ist als das Tempo, in dem die IDF sie auslöscht“, sagte Amir Avivi, ein pensionierter israelischer Brigadegeneral, der sich auf die israelischen Verteidigungskräfte bezieht. Und: „Mohammed Sinwar verwaltet alles.“

Ob sich die Hamas also zum aktuellen Zeitpunkt geschlagen geben und durch Verhandlungen eine neue Regierung akzeptieren wird, ist unwahrscheinlich. Formell kann ein solches Konstrukt sicherlich erreicht werden. Doch die Hamas wird sich weder Israel noch der PA jemals unterordnen, das hat die Geschichte gezeigt.

Israel torpediert Waffenstillstand erneut – diesmal von innen

Die nächsten Tage werden entscheidend dafür sein, ob der Waffenstillstand überhaupt wie geplant zustande kommen kann. Bereits während der Verhandlungen hatten die faschistischen israelischen Regierungsmitglieder, Finanzminister Bezalel Smotrich und Polizeiminister Itamar Ben-Gvir, immer wieder darauf bestanden, den Gazastreifen dauerhaft israelisch zu besiedeln – und im Falle eines Waffenstillstands die Regierung zu verlassen. Ben-Gvir versuchte in den vergangenen Tagen zudem, weitere Regierungsmitglieder davon zu überzeugen, bei einem Waffenstillstand aus der Regierung auszutreten.

Für ein Inkrafttreten des Waffenstillstands müssen zuvor auch noch das israelische Sicherheitskabinett und die israelische Regierung zustimmen. Die Abstimmung sollte ursprünglich am heutigen Donnerstag geschehen. Der israelische Premierminister Benjamin Netanyahu stellte jedoch am Donnerstagvormittag nach der Verkündung des Abkommens neue Bedingungen. Medienberichte legen nahe, dass die Verzögerung in dem innenpolitischen Druck gegen den Waffenstillstand durch die faschistischen Teile der israelischen Regierung begründet liegt.

Derweil gibt es erste Bilder von jubelnden Menschen aus dem Gazastreifen und Israel über die angekündigte Waffenruhe. Trotzdem gehen die Bombardierungen im Gazastreifen aktuell noch weiter. In den vergangenen Tagen schilderten die Menschen in Gaza eine Zunahme von Luftangriffen, insbesondere auf zivile Ziele wie etwa Zeltstädte in Deir el-Balah. Auch in der Nacht nach der Verkündung des Waffenstillstands berichten Menschen in Gaza über die Fortsetzung von Luftschlägen. Demnach tötete das israelische Militär zwischen Mittwoch und Donnerstagmorgen mindestens 48 Palästinenser:innen, davon etwa die Hälfte Frauen und Kinder.

Gaza: Das Sterben nimmt nicht ab

Ist ein echter Frieden möglich?

Nach monatelangen ergebnislosen Verhandlungen, begleitet von Massenmord und Zerstörung in Gaza, sind die aktuellen Entwicklungen ein erster Moment des Aufatmens. Ob der Waffenstillstand überhaupt wie geplant zustande kommt, ob er die erste sechswöchige Stufe überdauern wird und was danach folgt, ist allerdings noch völlig unklar.

Denn eins steht fest und wird sich im imperialistischen Weltsystem auch nicht ändern: Israel und die USA sind weiterhin nicht daran interessiert, die militärische Besatzung Palästinas zu beenden und den Bewohner:innen des Gazastreifens echte Freiheit zu erlauben. Dafür haben die Herrschenden in beiden kapitalistischen Staaten zu große Eigeninteressen.

Mit dem Machtwechsel in den USA wird außerdem eine weitere Verschlechterung der Situation für die palästinensische Bevölkerung wahrscheinlicher: Die Besiedlung des Westjordanlands sowie der Golanhöhen ist in vollem Gange. So berief Trump bereits den rechten evangelikalen Christen Mike Huckabee als israelischen Botschafter. Mit ihm soll in diesem Jahr dann z.B. das Westjordanland vollständig annektiert werden.

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