`

Zeitung für Solidarität und Widerstand

Was kann man von den „neuen Friedensgesprächen“ zur Lösung der kurdischen Frage erwarten?

Aktuell beginnt eine neue Verhandlungsphase zwischen der kurdischen Befreiungsbewegung und dem türkischen Regime. Abdullah Öcalan konnte eine Delegation der DEM-Partei empfangen, welche nun seine Lösungsansätze mit politischen Akteur:innen des türkischen Staats debattiert. Was sollte man bei der Einschätzung der Verhandlungen im Kopf behalten? – Ein Kommentar von Phillipp Nazarenko.

Freiheit für Abdullah Öcalan! So lautet eine zentrale Forderung der international aktiven kurdischen nationalen Befreiungsbewegung. Kurdistan ist eine unterdrückte und kolonisierte Nation in Westasien, die über eine große Diaspora in Ländern wie Deutschland mit mindestens 1 Million Kurd:innen verfügt. Abdullah Öcalan ist Gründer und (zumindest symbolischer) Anführer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) – zwar nicht die einzige, aber die dominante Kraft in der Bewegung für Kurdistans Freiheit. Was „Rêber Apo“ (Spitzname Öcalans) sagt, hat in der kurdischen Bewegung also Gewicht.

Nun sitzt dieser bereits seit 26 Jahren in Haft, den Großteil davon in – als Folter geächteter – Isolationshaft. Vor dem Besuch der DEM-Delegation kommunizierte er das letzte Mal mit der Außenwelt im Jahr 2015, ebenfalls während der damaligen Friedensverhandlungen. Die kurdische nationale Befreiungsbewegung, die auch die Revolution in Nord-Ost-Syrien (kurdisch: Rojava) und den Guerilla-Krieg im Nordirak umfasst, ist sowohl von globaler als auch von konkreter regionaler Bedeutung für die Türkei und Westasien. Wenn es hier zu qualitativen Veränderungen kommt, beeinflusst dies das Leben von Millionen von Menschen. Revolutionäre Prozesse in allen angrenzenden Ländern sind betroffen.

Mit welchem Interesse werden die Verhandlungen geführt und wie läuft so etwas ab?

Zu allererst sollte festgehalten werden, dass das Führen von „Friedensverhandlungen“ in revolutionären Bewegungen international relativ normal ist. Am Ende hängt es davon ab, ob die Führungen der revolutionären Kräfte opportunistische Ziele verfolgen und die Bewegungen hierbei verraten, oder ob es sich um eine Taktik der Enthüllung und der Bloßstellung des bürgerlichen Staats handelt. Für beides gibt es in der Geschichte genügend Exempel, so zum Beispiel bei den Verhandlungen der revolutionären Kommunistischen Partei der Philippinen mit dem verfeindeten faschistischen Regime dort.

Kapitalistische Regime versprechen der vom Krieg geplagten Bevölkerung und den revolutionären Kräften oft und gerne alle möglichen Zugeständnisse, nur damit diese sich aus der Deckung bewegen und die bewaffnete Selbstverteidigung beenden. Sobald diese dann Entgegenkommen zeigen, schlagen Staat und Faschist:innen brutal zu, und man möchte nichts mehr von den eigenen Versprechen wissen.

Paradebeispiel dafür ist der 2016 durchgeführte „Friedensprozess“ mit der FARC-EP, einer kommunistisch orientierten Guerillagruppe in Kolumbien. Nach Abgabe ihrer Waffen und Überführung ihrer Strukturen in eine legale Partei kam es zu tausendfacher Ermordung und Verschleppung der Aktivist:innen durch Polizei, Armee und faschistische Banden. Der Bürgerkrieg zwischen revolutionären Kräften und dem rechten Staat geht in Kolumbien heute ohne große Veränderung weiter.

„FARC-EP“: Entwaffnung größtenteils abgeschlossen

Die revolutionären Kräfte der Türkei und Kurdistans sollten diese historischen Erfahrungen sehr ernst nehmen: Der türkische Staat und seine führenden Parteien wie die MHP und AKP sind faschistisch und morden wie unterdrücken die Bevölkerung sowohl im eigenen Staat, als auch in den benachbarten Regionen. Schon seit Jahren, aber seit einigen Monaten besonders verstärkt, bombardiert die türkische Armee Rojava und die kurdischen Gebiete im Nordirak. Im türkisch besetzten Teil Kurdistans geht die militärische Unterdrückung – z.B. durch das Absetzen kurdischer Bürgermeister:innen und ihr Ersetzen durch Zwangsverwaltungen der AKP oder durch Polizeiterror – unvermindert weiter. Auch international ist der türkische Staat sich nicht zu fein, entweder über seinen Geheimdienst MIT gezielt kurdische Aktivist:innen zu ermorden oder dschihadistische Milizen wie die SNA in Syrien zu unterstützen.

Ein Jahr nach dem Anschlag auf Kurd:innen in Paris: Keine Gerechtigkeit, keine Aufarbeitung

Zu anderen Massenmördern wie Israel und den USA bestehen gute Beziehungen. Schon jetzt nutzt das Erdogan-Regime die Verhandlungen mit der pro-kurdischen DEM-Partei – die als legaler parlamentarischen Flügel der kurdischen Bewegung gehandelt wird –, um die politische Lage im eigenen Staat zu beruhigen. Massenhafter Widerstand der Bevölkerung gegen die eigene Repression und den Krieg in Rojava soll durch Heilsversprechen über Friedensverhandlungen unterbunden bzw. entmutigt oder entkräftet werden. Währenddessen geht die Gewalt von staatlicher Seite unvermindert weiter. Man versucht, Fakten am Boden zu schaffen.

Welche Rolle spielen die verschiedenen kurdischen Gruppen?

Die kurdischen Politiker:innen und Revolutionäre sind weder blind noch dumm. All das ist ihnen und auch den breiten Massen in der Türkei und Kurdistan bekannt. Nichtsdestotrotz ist die aktuelle Situation komplex und alles andere als widerspruchsfrei.

Einerseits ist da die reale Frage nach Öcalans Zurechnungsfähigkeit. Das ist keine moralische Bewertung seiner Rolle: Jeder realistisch denkende Mensch muss anerkennen, dass Öcalan seit Jahrzehnten in Isolationshaft gefoltert wurde und von der realen Bewegung und der materiellen Realität des Kampfes isoliert war. Das verändert bzw. schädigt Menschen nachhaltig. Die kurdische Bewegung ist größer als Öcalan allein, etwas, das er auch selber sagt und versteht. Dies droht aber derzeit in der aktuellen Bewegung, die notgedrungen viel politisches Kapital in die Figur des „Rêber Apo“ und den Befreiungskampf von politischen Gefangenen investiert, leider unterzugehen.

Realistisch muss man auch sehen, dass die kurdische Bewegung als Ganzes kein widerspruchsfreier monolithischer Block ist: Da ist einerseits der Widerspruch zwischen dem „legalen Flügel“ rund um die, in der Türkei aktive, DEM-Partei (Nachfolgerin der verbotenen HDP) und ihr angegliederte Organisationen und Gewerkschaften. Auf der anderen steht der illegale, bewaffnete Teil der Bewegung (vor allem die PKK und ihre Guerilla).

Auch hier geht es nicht um eine schematische, vereinfachte und moralische Unterteilung in die aufrechte und überzeugte Guerilla hier und opportunistische und korrumpierbare Parlamentspolitiker:innen dort: Es geht um die realen materiellen Einflüsse auf die politische Entscheidungsfindung der Akteur:innen in diesen komplexen Situationen, die eben zu möglichen anderen Handlungsperspektiven führen. So gibt es durchaus die Tendenz der legalen Kräfte, eben diesen legalen Kampf in den Vordergrund zu rücken und somit Zugeständnisse an der militanten bzw. illegalen Front zu machen. Da aber der kapitalistische türkische Staat nicht legal gestürzt werden kann, ist ein Aufgeben des bewaffneten Kampfes und des Aufbaus von Parallelstrukturen zu diesem Staat (die seine Legitimität in Frage stellen) ein Todesstoß – auch für die legale Bewegung.

Was sind die aktuellen Perspektiven der Verhandlungen?

Die konkreten Ergebnisse der Verhandlungen werden noch etwas Zeit brauchen. Gerade in diesen Tagen treffen sich die Vertreter:innen der DEM-Partei mit Vertreter:innen der MHP und AKP. Weitere Parteien und Organisationen sollen folgen. Die aktuelle Verhandlungsrunde geht auf den Vorschlag des faschistischen MHP-Führers Devlet Bahceli zurück, der für Öcalans Freiheit im Gegenzug die Auflösung und Entwaffnung der PKK fordert – eine von Erdogan unterstützte Forderung.

Öcalan-PKK-Deal und Angriff auf kurdische Gebiete

Die Delegation der DEM überbringt derweil folgende Statements Öcalans an die Öffentlichkeit:

„Die erneute Stärkung der türkisch-kurdischen Geschwisterlichkeit ist eine historische Verantwortung und hat eine entscheidende und dringende Bedeutung für das Schicksal aller Völker. Für den Erfolg des Prozesses ist es unerlässlich, dass alle politischen Kreise in der Türkei die Initiative ergreifen, konstruktiv handeln und positive Beiträge leisten, ohne sich in engstirniges und periodisches Kalkül zu verstricken. Einer der wichtigsten Orte für diese Beiträge ist das Parlament der Türkei.

Die Ereignisse in Gaza und in Syrien haben gezeigt, dass die Lösung dieses Problems, das durch Interventionen von außen verschlimmert wird, nicht länger aufgeschoben werden kann. Auch die Beiträge und Vorschläge der Opposition sind wertvoll, um einen Erfolg in einem Bemühen zu erzielen, das in direktem Verhältnis zur Schwere dieses Problems steht.

Ich habe die Kompetenz und die Entschlossenheit, den notwendigen positiven Beitrag zu einem neuen Paradigma zu leisten, das von Herrn Bahçeli und Herrn Erdoğan gestärkt wird. Die Delegation wird meinen Ansatz staatlichen und politischen Kreisen vermitteln. Vor diesem Hintergrund bin ich bereit, den notwendigen positiven Schritt zu setzen und einen Aufruf zu machen.

Unsere Bemühungen werden das Land auf das Niveau bringen, das es verdient, und ein wertvoller Wegweiser für einen demokratischen Wandel sein. Es ist Zeit für eine Ära des Friedens, der Demokratie und der Geschwisterlichkeit für die Türkei und die Region.“

Nach aktueller Lage scheint es also recht wahrscheinlich, dass die aktuellen Verhandlungen als politische Zurschaustellung der Unzuverlässigkeit des türkischen Staates genutzt werden. Eine Auflösung der PKK oder eine Aufgabe der Revolution in Rojava werden nicht zugesichert. Gleichzeitig bleibt abzuwarten, was weiter geschieht.

Keine Entwaffnung der PKK

Deutlich kämpferischer äußert sich dagegen Besê Hozat, die Ko-Vorsitzende im Exekutivrat der Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK) – eine neue und zentrale Organisationsform der PKK. Sie bezeichnet die Verhandlungsangebote des Erdogan-Regimes und seiner Verbündeten als „Spezialkriegstaktik“ und spricht ihnen jedes Vertrauen von Seiten des kurdischen Volks ab.

So sagt sie unter anderem: „Ohne eine demokratische Lösung wird die Türkei ethnische und religiöse Konflikte erleben, die über Generationen andauern werden. Am Ende könnte die Republik Türkei als Staat nicht mehr existieren“. Dabei darf der von ihr verwendete Begriff „demokratische Lösung“ nicht einfach mit der Entwaffnung der PKK gleichgesetzt werden. Sie hebt beides hervor: die zentrale Rolle sowohl von aktivem Widerstand, vor allem in Rojava, aber auch Öcalans öffentliche Verhandlungsbereitschaft.

Wie auch immer sich die Verhandlungen weiter entwickeln werden – ein plötzliches Aufgeben des kurdischen Befreiungskampfes ist weder von der PKK, noch von anderen revolutionären Kräften in der Region zu erwarten.

Phillipp Nazarenko
Phillipp Nazarenko
Sächsischer Perspektiveautor seit 2022 mit slawisch-jüdischem Migrationshintergrund. Geopolitik, deutsche Geschichte und der palästinensische Befreiungskampf Schwerpunkte, der Mops das Lieblingstier.

Mehr lesen

Perspektive Online
direkt auf dein Handy!