Wirtschaftsforscher:innen warnen vor einem 20-Jahres-Hoch an Firmenpleiten. Im Zuge der wirtschaftlichen Stagnation investieren zahlreiche Unternehmen jedoch weiter in Deutschland. Habeck, Merz und Ökonom Fratscher sind sich im großen und ganzen einig, wie die Antwort auf den fehlenden Aufschwung aussehen muss.
„Wir sind in der Größenordnung, wo einzelne Monate durchaus 20-Jahres-Hochs abgeben“, erklärt der Insolvenzforscher und Leiter der Insolvenzforschung am Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) Steffen Müller. Etwa 15 Jahre nach der Finanzkrise 2008/09 sei die Zahl der Unternehmensinsolvenzen wieder auf einem ähnlichen Stand. Grund seien unter anderem Nachholeffekte durch die Corona-Pandemie sowie die Nullzinspolitik der EZB: „Unternehmen, die sich früher für wenig Geld finanzieren konnten, kommen jetzt durch steigende Zinsen unter Druck.“
Der Leiter der Creditreform-Wirtschaftsforschung, Patrik-Ludwig Hantzsch, sieht dieses Niveau jedoch noch nicht durch die jährlichen Zahlen erreicht. Doch im Dezember erklärte er, dass dies drohe und „bald wieder Insolvenzzahlen nahe an den Höchstwerten der Jahre 2009 und 2010 in Sichtweite kommen, als über 32.000 Unternehmen in die Insolvenz gingen“.
Der höchste Anstieg im Vergleich zum Vorjahr wurde 2024 im Oktober erreicht, als 22,9 % mehr Regelinsolvenzen beantragt und 35,9 % mehr Unternehmensinsolvenzen von den Amtsgerichten bestätigt wurden. Im Dezember belief sich der Anstieg auf 13,8 % gegenüber dem Vorjahresmonat. Im gesamten Jahr 2024 kletterte die Zahl der Firmenpleiten um 16,8 % im Vergleich zu 2023.
Pleitewelle? Dauerkrise? – Wie steht es um die deutsche Wirtschaft?
Dr. Christoph Niering, Vorsitzender des Berufsverbandes der Insolvenzverwalter und Sachwalter Deutschlands (VID), sieht die Zahlen aus Zeiten der Finanzkrise „nicht annähernd“ erreicht, was jedoch auch an einer geringeren Anzahl an Unternehmensgründungen hinge. Neu sei, dass nicht mehr nur eine allgemeine Konsumflaute die wirtschaftliche Schieflage erklären könne.
„Stattdessen hinterlassen Transformationsprobleme, demographischer Wandel und überholte Geschäftsmodelle ihre Spuren bei den Insolvenzen“, so Niering. Die staatliche Unterstützung hätte „den Insolvenzprozess nur hinausgezögert und Veränderungsprozesse aufgehalten“. Besonders betroffen von den Insolvenzen der letzten Monate waren die Bereiche Verkehr und Lagerei, das Baugewerbe und das Gastgewerbe sowie Dienstleistungen wie zum Beispiel Zeitarbeitsfirmen.
Investitionen in Maschinenbau-, Energie- und Pharmabranche
Neben den zahlreichen Insolvenzen und dem geplanten Stellenabbau, der besonders die Automobilbranche betrifft, zeigt sich die schwierige wirtschaftliche Lage auch im Produktionsindex. Im November 2024 stieg die Produktion im produzierenden Gewerbe um 1,5 % zum Vormonat, war aber 2,8 % niedriger als im Vorjahr. Im Oktober sank sie um 0,4 % zum Vormonat und lag 4,2 % unter dem Vorjahr.
Trotzdem investieren deutsche Unternehmen weiterhin in den Ausbau ihrer Produktionskapazitäten. Von 2015 bis 2022 stiegen die Bruttoinvestitionen in Deutschland von 600 Milliarden auf etwa 910 Milliarden Euro. Einen leichten Rückgang gab es 2019/2020 mit dem Beginn der Überproduktionskrise und der folgenden Corona-Pandemie. Auch 2023 sanken die Investitionen um 3 Milliarden Euro – damit lagen sie jedoch immer noch weit über den Jahren zuvor.
„Wir sind hier nicht nur fest verwurzelt, sondern profitieren auch von einem exzellenten Ausbildungsstandard und qualifiziertem Personal“, erklärt Christian Lau, geschäftsführender Direktor des Verpackungsspezialisten Mulitvac, zur Investition seines Unternehmens von 100 Millionen Euro für eine zweite Produktionsstätte im Unterallgäu.
Auch der Hersteller von Getriebemotoren SEW-Eurodrive investiert 350 Millionen Euro in den Standort Graben-Neudorf. Der Pumpenhersteller KSB will seine Produktion in Mannheim 2025 mit 60 Millionen Euro deutlich erweitern.
Einer Umfrage des Verbands der Chemischen Industrie (VCI) zufolge plant lediglich ein Viertel der Mitgliedsunternehmen das Investitionsbudget für Deutschland zu erhöhen, während 46 Prozent beabsichtigen, es zu reduzieren. Die energieintensive Produktion wird zunehmend durch die hohen Energiekosten belastet. Dennoch entscheiden sich viele Unternehmen für ihre Investitionen weiterhin für Standorte innerhalb Deutschlands.
In der Pharmabranche wurden seit 2023 für deutsche Standorte Investitionen von mehr als sieben Milliarden Euro angekündigt. Darunter befinden sich auch zahlreiche ausländische Unternehmen wie der US-Pharmakonzern Eli Lilly, das zweitgrößte japanische Pharmaunternehmen Daiichi Sankyo und der französische Pharma- und Gesundheitsriese Sanofi. All diese Unternehmen wollen in Deutschland neue Forschungs- und Produktionsstätten bauen.
In der Energiebranche erreichte die Genehmigungen für den Bau neuer Windräder 2024 einen Rekordwert. Der US-Investmentfonds I-Squared sieht die deutsche Energiebranche als attraktiven Wachstumsmarkt. Laut Deutschlandchef Yves Meyer-Bülow plant das in Miami ansässige Unternehmen, in den nächsten drei Jahren 500 Millionen Euro in den Ausbau von Photovoltaik in der Landwirtschaft zu investieren.
Habeck, Merz und Kapitalvertreter wollen Arbeiter:innen zur Kasse bitten
In vielen anderen Branchen gibt es seit Jahrzehnten ebenfalls einen großen Investitionsanstieg, der jedoch oft nicht den eigentlichen Bedarf deckt – so zum Beispiel in der Strom- und Kommunikationsbranche. Fehlende Investitionen sind dabei auch immer wieder zentraler Teil der strategischen Diskussionen in der deutschen Politik.
Die Studie „Transformationspfade“ der Kapitalverbände BDI, BCG und IW fordert dahingehend, dass Deutschland dringend mehr Investitionen tätigen müsse, um seine industrielle Wettbewerbsfähigkeit bis 2030 zu sichern. Ein zusätzliches Investitionsvolumen von 1,4 Billionen Euro sei erforderlich. Dazu wird eine Reform des Arbeitsmarktes gefordert, um Fachkräfte durch bessere Weiterbildung und gezielte Integration aus dem Ausland zu gewinnen. Unternehmen sollen zudem von hohen Energie- und Steuerlasten entlastet werden.
Unternehmen und BDI warnen vor Deindustrialisierung: Gefangen im Hamsterrad
Robert Habeck erklärt im Interview mit dem Spiegel: „Deutschland muss sich noch mal neu erfinden, oder es wird keine Option mehr haben, sich neu erfinden zu können. Wenn wir uns nicht grundlegend ändern, werden wir in einer umkämpften Welt nicht mehr die Rolle spielen, die wir bislang gespielt haben.“
Einerseits will er die Rahmenbedingungen durch den „Ausbau der Energieinfrastruktur über den Abbau von Bürokratie bis hin zu gezielten Förderprogrammen in die klimaneutrale Zukunft“ verbessern. Dazu zählt auch der Klima- und Transformationsfonds, der größtenteils von Habecks Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) bewirtschaftet und vor allem über den europäischen und nationalen Emissionshandel finanziert wird.
Doch dieser wird wie bei der CO2-Steuer vor allem auf die Verbraucher:innen umgelegt und nicht von den Konzernen als Verursacher:innen gezahlt. Anfang 2024 wurden in Bereichen wie dem Wohnungsmarkt die Aufteilung der Kosten gerichtlich beschlossen, nachdem Vermieter:innen diese zuvor vollständig umlegen durften. Doch Mieter:innen sind durch die höheren Ausgaben weiter stark belastet .
Andererseits fordert Habeck im Zuge der Neuerfindung und dem Standhalten in einer umkämpften Welt, die Rüstungsausgaben auf 3,5 % der Wirtschaftsleistung zu verdoppeln, und damit das 2-Prozent-Ziel der NATO deutlich zu übertreffen. Die Bundesregierung hat dem NATO-Bündnis für das Jahr 2024 Militärausgaben von rund 90,6 Milliarden Euro gemeldet – 2018 waren es mit 46,5 Milliarden Euro noch etwa die Hälfte. In Deutschland wären die 3,5 % des BIP jährliche Ausgaben von 150 Milliarden Euro.
Wie das ganze finanziert werden soll bleibt oft eine große Frage. Doch Vorschläge wie ein starker Abbau von Sozialleistungen wie Bürgergeld und Renten, sowie die Kürzung der Mittel für Länder und Kommunen standen bereits beim letzten Haushalt auf der Tagesordnung.
Der mögliche neue Kanzler Friedrich Merz kündigte immer wieder an, bis zu 100 Milliarden Euro durch Kürzungen im Bereich Migration und Sozialhilfe durchsetzen zu wollen. Auch bei der Kranken- und Pflegeversicherung werde „ein gehöriges Stück mehr Eigenverantwortung nötig sein“. Dazu forderte er einen Einstellungsstopp im öffentliche Dienst, der jedoch bereits jetzt an vielen Stellen, wie im Bereich der Erziehung, stark überlastet ist.
Der Chefökonom des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, erklärte kürzlich, dass die Tarifforderungen von ver.di von acht Prozent mehr Lohn in den Tarifverhandlungen des öffentlichen Diensts utopisch seien. Dabei stellen diese bereits jetzt klar einen Reallohnverlust für die Angestellen dar – also eine weiter Senkung des Lebensstandards.