Bad Bunny dürfte der aktuell erfolgreichste lateinamerikanische Künstler weltweit sein. In seinem neuen Album kombiniert er nun persönliche Emotionen mit für Pop-Verhältnisse kritischen politischen Botschaften. Während er Themen wie Liebe, Vergänglichkeit oder Selbstzweifel thematisiert, berührt er auch Kolonialgeschichte und Gentrifizierung. – Eine Rezension zum Album „DeBÍ TiRAR MáS FOToS“ von Susana Moreno.
Das neue Album des puertoricanischen Künstlers Bad Bunny (Benito Antonio Martínez Ocasio) kommt nicht nur mit 17 Songs, sondern sogar einem kleinen Kurzfilm. Es ist eine vage Erinnerung an längst vergangene Tage, an eine verlorene Kultur und eine verlorene Identität.
Ein älterer Herr findet sich darin in seinem eigentlichen Heimatland Puerto Rico nicht mehr zurecht, alles erscheint ihm irgendwie fremd. Kaum einer spricht mehr Spanisch. Er hat Schwierigkeiten damit, eine puertoricanische „Tripleta” zu bestellen. Das traditionelle Sandwich ist entstellt – westifiziert. Als der alte Herr das überteuerte Gericht nicht bezahlen kann, hilft ihm ein Einheimischer.
Es scheint selten geworden zu sein, Latinos in Puerto Rico anzutreffen – überall finden sich US-amerikanische Siedler:innen. Im Gesicht des alten Mannes lässt sich eine wohlige Vertrautheit erkennen, als er mit dem Latino interagiert. Am Schluss bemerkt er, dass er mehr Fotos hätte schießen sollen, all die schönen Erinnerungen hätte festhalten sollen. Jetzt kann er sich kaum mehr erinnern. Seine kulturelle Identität ist nun nichts weiter als eine vage Erinnerung. Alles was ihm bleibt, sind die Fotos, die er immer und immer wieder anschaut, um sich selbst nicht zu verlieren.
DeBÍ TiRAR MáS FOToS
Diese Handlung ist in dem Kurzfilm „DtMF” (DeBÍ TiRAR MáS FOToS = ich hätte mehr Bilder aufnehmen sollen) verpackt. Damit möchte Bad Bunny thematisch in sein gleichnamiges Album einführen.
Es ist ein Album, gerichtet an sein Heimatland Puerto Rico, gerichtet an sein Volk, voller Leidenschaft und Liebe für die eigene lateinamerikanische Kultur und Identität. Diese lateinamerikanische Kultur scheint er vom westlichen Einfluss und vom US-Imperialismus bedroht zu sehen. Durch sein Album möchte er die lateinamerikanische Identität und Kultur bewahren und verbreiten.
Und dies ist Bad Bunny definitiv gelungen: Sein Album vereint eine beeindruckende Vielfalt an Genres aus dem lateinamerikanischen Repertoire – von Salsa über Reggaeton, Dembow und Trap bis hin zur puertoricanischen Plena. Mit dem Song „BAILE INoLVIDABLE“ (= Unvergesslicher Tanz) gelang es ihm sogar, erstmalig ein Salsa-Lied an die Spitze der US-Charts zu bringen.
Das Album ist inhaltlich nicht per se politisch und behandelt überwiegend Themen wie Schnelllebigkeit, Vergänglichkeit, Liebe, Verlust oder Selbstzweifel. Es bleibt ein Pop-Album, das vor allem im Marketing klug aufgemacht ist und z.B. durch einen überraschenden Auftritt von Bad Bunny in der U-Bahn virale Clips produzierte. Kommerziell dürfte es für den Künstler und sein Label einen großen Erfolg bedeuten und dem Multi-Millionär gute Einnahmen und gefüllte Konzerte bescheren.
Besonders durch den Kurzfilm gibt Bad Bunny dem Album jedoch eine für lateinamerikanische Pop-Verhältnisse relativ politische Note: Allein dadurch, dass er unzählige puertoricanische Referenzen einbaut und indirekt darauf hinweist, dass die lateinamerikanische Kultur vom Imperialismus bedroht ist, verwandelt sich das Album in eine politische Botschaft. Auch wenn die Aussagen insgesamt vage bleiben, ist es eine für Reggaeton-Verhältnisse deutliche Besonderheit, die insbesondere Lateinamerikaner:innen emotional berührt.
Lo que le pasó a Hawái – Imperialismus, Kolonialismus und kulturelle Verdrängung
In einem explizit politischen Lied setzt Bad Bunny ein unmissverständliches Zeichen für die Unabhängigkeit Puerto Ricos – und zwar durch Bezugnahme auf Hawaii: Hawaii wurde am 7. Juli 1898 durch die USA annektiert und 1959 offiziell der 50. Bundesstaat der USA. Durch die Annektion wurden die hawaiianische Sprache und Kultur zurückgedrängt.
Puerto Rico wurde 1898 ebenfalls durch die USA annektiert und gilt seitdem als Außengebiet der USA. Damit ist Puerto Rico ein Freistaat, hat also eine gewisse Selbstverwaltung mit eigener Verfassung. Puerto Ricaner gelten als US-Staatsbürger:innen, haben jedoch kein Stimmrecht bei Präsidentschaftswahlen – es sei denn, sie leben in einem der 50 Bundesstaaten.
Puerto Rico hat mehrfach Referenden darüber abgehalten, ob sie ein Freistaat bleiben wollen, als 51. Bundesstaat an die USA angegliedert werden oder ob sie ein unabhängiger Staat sein wollen. Unter den Puerto Ricaner:innen selbst scheint dies ein umstrittenes Thema zu sein. Unter teilweiser geringer Abstimmungsbeteiligung schwanken die Zahlen pro-Angliederung um die 50 Prozent.
Welche Position Bad Bunny bezieht, wird besonders durch das Lied „Lo que le pasó a Hawái“ indirekt klar:
Quieren quitarme el río y también la playa
Quieren el barrio mío y que abuelita se vaya
No, no suelte‘ la bandera ni olvide‘ el lelolai
Que no quiero que hagan contigo lo que le pasó a Hawái
Sie möchten mir den Fluss und auch den Strand wegnehmen
Sie wollen mein Viertel und, dass die alte Dame geht
Lass die Flagge nicht los und vergiss nicht die lelolai [Anm: Weihnachtslied aus Puerto Rico]
Denn ich möchte nicht, dass dir das passiert, was Hawaii passiert ist.
Debí tirar más fotos – Von Puerto Rico bis nach Gaza
Üblicherweise gibt Bad Bunny keine inhaltlichen Hintergrundinformationen zu seinen Liedern. Er möchte, dass die Zuhörer:innen sich selbst und ihre eigenen Geschichten in seine Lieder hinein interpretieren. Und vor allem beim Lied DtMF haben die Zuhörer:innen dies getan.
Debí tirar más fotos de cuando te tuve
Debí darte más beso‘ y abrazo‘ las vece‘ que pude
Ey, ojalá que los mío‘ nunca se muden
Als ich dich noch hatte, hätte ich mehr Fotos aufnehmen sollen
Ich hätte dir, als ich das noch konnte, mehr Küsse und mehr Umarmungen geben sollen
Ey, hoffentlich ziehen meine Leute niemals weg
Ein Lied voller Nostalgie, in dem Bad Bunny auf vergangene Lebensabschnitte verweist, die einem nur noch durch Fotos bleiben.
Diese Zeilen brachten zahlreiche Personen dazu, Videos untermalt mit Bad Bunnys Lied zu veröffentlichen, in denen sie Videoausschnitte aus dem Gaza vor Kriegsbeginn zeigen – ebenfalls vergangene Lebensabschnitte, die ihnen jetzt nur noch durch Fotos erhalten bleiben. Erinnerungen an geliebte Menschen und Haustiere, von denen sie vor ihrem Tod gerne noch mehr Bilder aufgenommen hätten. Erinnerungen an eine Heimat, von der durch israelische Bomben nur noch Schutt und Asche übrig ist.
Der Sound des Barrio
Insgesamt hinterlässt DtMF eine bittersüße Note, das Album kann einen wirklich berühren. Es erinnert uns an die Schnelllebigkeit und Vergänglichkeit – insbesondere im derzeitigen imperialistischen Stadium des Kapitalismus. Die unzähligen Referenzen für Puerto Rico gehen sicherlich insbesondere Puerto Ricaner:innen unter die Haut.
Doch Bad Bunnys Album verbindet Lateinamerikaner:innen auch über Ländergrenzen hinweg und erinnert uns daran, dass uns eine gemeinsame Sprache, ein gemeinsamer Rhythmus und eine gemeinsame Kolonialgeschichte einen. Es ist der „sonido del barrio“ (= Klang des Viertels/Klang der Nachbarschaft), den Bad Bunny und viele andere Lateinamerikaner:innen schmerzlich vermissen und unendlich lieben.