1970 wurde der Karenztag abgeschafft. Jetzt hat der Allianz-CEO Oliver Bäte wieder die Debatte darum entfacht, dass am ersten Tag der Krankheit kein Lohn gezahlt werden soll. Idiotischer Vorschlag? Oder kann das doch schneller Realität werden, als man denkt? – Ein Kommentar von Michelle Mirabal.
Laut Oliver Bäte sei Deutschland Weltmeister bei den Krankmeldungen, jede:r Angestellte sei im Schnitt 20 Tage pro Jahr krank. Um diese Tage wieder zu mindern, hat er die Debatte um den sogenannten „Karenztag” aufgemacht. Damit möchte Bäte verhindern, dass die Arbeiter:innen einfach „krank machen”. Er geht damit grundsätzlich davon aus, dass viele gar nicht wirklich krank, sondern nur zu faul zum Arbeiten seien.
Der Vorschlag trifft auf Gegenwind
Mehrere Politiker:innen und die DGB-Chefin stellen sich aktuell noch gegen den Vorschlag: Der Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) sagt z.B.: „Wer krank gemeldete Beschäftigte unter den Generalverdacht des Blaumachens stellt, hat ein verzerrtes Bild von den arbeitenden Menschen in diesem Land“.
Die FDP brachte außerdem den Vorschlag ein, man könne diejenigen Arbeiter:innen stattdessen belohnen, die keine Krankheitstage hätten. Und Gesundheitsminister Lauterbach bezeichnete den Vorschlag schlicht als „Unverschämtheit“.
Lindner will telefonische Krankschreibung abschaffen – Ärzt:innen warnen
Auch die DGB-Chefin Yasmin Fahimi äußert sich zu dem Vorstoß: Sie sagte, es handele sich um einen Versuch, tarifliche und sozialrechtliche Errungenschaften wieder abzubauen und kritisierte richtigerweise, dass es sich auch um das Ziel handele, Lohnkosten durch die Hintertüre zu sparen. Sowohl Lauterbach als auch Fahimi verschwiegen jedoch in ihren Kritiken, dass ein solches Vorgehen in vielen Firmen bereits Realität und oft als „Produktivitätsbonus“ bekannt ist.
Misstrauen gegen Arbeiter:innen
Nicht nur der CEO der Allianz-Versicherungen ist misstrauisch gegenüber Arbeiter:innen. Der deutsche Werksleiter des US-Konzerns Tesla machte bei seinen krank gemeldeten Mitarbeiter:innen gar unangekündigte Hausbesuche, um sie zu kontrollieren. Ob dieses Unter-Druck-setzen bei der Genesung hilft, ist natürlich fraglich.
Zum Teil wird sogar so weit gegangen, zu behaupten, dass der hohe Krankenstand an der Rezession der deutschen Wirtschaft schuld sei. Das formuliert der Verband der forschenden Pharmaunternehmen VFA. Er meint, nachweisen zu können, dass ohne die „überdurchschnittlichen“ Krankheitstage die deutsche Wirtschaft um knapp 0,5 Prozent gewachsen wäre.
Rezession wegen Krankheitstagen? – Werbung im Nachrichtengewand
Dieses „wenn oder aber“ dient letztlich aber nur dazu, die Schuld auf die Beschäftigten zu verschieben und den eigentlichen Schuldigen – den normalen Krisenzyklus des Kapitalismus – zu verschleiern. Auch die Corona-Pandemie und die damit einher gegangenen Lieferengpässe werden komplett außer acht gelassen – Schuld sollen auf einmal die kranken Arbeiter:innen sein.
Dabei ist auch zu beachten, dass die „Zahlen”, wie Oliver Bäte sie nennt, so nicht ganz stimmen: Zum einen erkennt die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) keinen erhöhten Krankenstand in Deutschland: ihren Daten zufolge fehlten Beschäftigte im Jahr 2023 im Schnitt 6,8 Prozent ihrer Arbeitszeit wegen Krankheit – genau so oft wie im Durchschnitt der Jahre 2015 – 2019.
Hinzu kommt noch ein statistischer Sondereffekt bei der Erhebung der Zahlen: Bis 2022 war es den Arbeiter:innen noch selber überlassen, ob sie die Krankmeldung nicht nur dem Unternehmen, sondern auch der Krankenkasse zukommen lassen. Das wurde oft nicht gemacht, sodass diese Daten gar nicht registriert werden konnten. Aufgrund der neuen Online-Bescheinigungen erhalten die Krankenkassen mittlerweile alle Krankmeldungen automatisch. Das führte natürlich zu einem plötzlichen Anstieg der Zahlen.
Zurückdrehen von Fortschritten
Nichtsdestotrotz darf man den Vorschlag von Oliver Bäte nicht einfach links liegen lassen, denn er könnte in wenigen Monaten schon Gesetz werden: Die letzte Zeit hat gezeigt, dass gerade während dieser anhaltenden Wirtschaftskrise das Kapital, immer wieder versucht, einen neuen, schlechteren Staus Quo durchzusetzen. Die Aufforderung „Back-to-Office“ war in aller Munde, und einige Firmen wie Telekom und Tesla haben die Rückkehr in die Büros rabiat durchgesetzt.
Angestellte bei der Telekom müssen wieder – ohne wenn und aber – drei Tage die Woche ins Büro. Tesla-Chef Elon Musk hält Homeoffice sogar für „moralisch falsch“. Er behauptet, es sei verwerflich, dass die Werksmitarbeiter:innen in die Werkstatt kommen müssten, während andere von zu Hause aus arbeiten dürften. Allerdings ist eher zu vermuten, dass es ihm dabei im Wesentlichen darum geht, die Leute vor Ort besser kontrollieren lassen und anpeitschen zu können. Moralität war und ist für den Multi-Unternehmer und AfD-Befürworter bislang ein Fremdwort.
Wen trifft der Karenztag?
Der Karenztag wird die am meisten treffen, die bereits wenig Lohn bekommen und sich keinen unbezahlten Tag leisten können – also Menschen, die besonders oft in prekären Jobs arbeiten, wie z.B. Frauen und Studierende.
Im Umkehrschluss würde das bedeuten, dass viele gezwungen wären, sich krank zur Arbeit zu schleppen, und dort entweder ihre Kolleg:innen anstecken oder sich nicht vernünftig ausruhen können, um komplett gesund zu werden. Das wiederum würde zwangsläufig bedeuten, dass noch mehr Mitarbeiter:innen ausfallen, dazu noch für längere Zeit.
Auch mal krank zur Arbeit schleppen – für die deutsche Wirtschaft!
Wie kann man sich wehren?
Wenn man wirklich gegen die Krankheitstage der Arbeiter:innen vorgehen möchte, muss man die Ursachen heraus finden. Fakt ist: die Deutschen werden immer kränker, nicht nur körperlich, sondern auch oft psychisch. Das passiert nicht einfach so oder weil man besonders faul wäre, sondern geht einher mit einem System, das durch Ausbeutung, Überlastung und Krisen gekennzeichnet ist: Armut, Stress und Überlastung machen krank – und das ist keine neue Erkenntnis, sondern schon lange bekannt.
Dass die Chef:innen daran nichts ändern wollen, ist klar. Denn dann müssten sie ganz konkret ihre eigenen Profite hinter das Wohl der Arbeiter:innen stellen.
Gerade die Zeiten der Wirtschaftskrise bringen vermehrte Angriffe auf die Arbeiter:innen hervor – die Konzerne versuchen, die Krisenlasten auf unsere Rücken abzuwälzen. Dagegen wehren kann man sich allerdings nur gemeinsam und organisiert. Denn das wird nicht der letzte Angriff gewesen sein, und wir müssen ihn gemeinsam zurückschlagen.
Wege zum Ziel gibt es hier viele: Zum einen sind Streiks immer ein legitimes, lang erkämpftes Mittel, um die Angriffe abzuwehren. Aber es gibt auch andere Formen des Arbeitskampfes: Wenn es unsere Chef:innen z.B. so sehr nervt, dass ihre Arbeiter:innen so oft krank sind und der Karenztag eingeführt würde, könnte man sich in Zukunft auch bei kleineren Sachen wie Halsweh einfach direkt die ganze Woche krankschreiben lassen und nicht mehr nur diesen einen Tag.
Dieser Text ist in der Print-Ausgabe Nr. 95 vom Februar 2025 unserer Zeitung erschienen. In Gänze ist die Ausgabe hier zu finden.