Trotz vereinbarter Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas wachsen die Zweifel am Fortbestand des Waffenstillstands. Israel verstieß wiederholt gegen das Abkommen und verzögert die Verhandlungen. Im Gegenzug kündigt die Hamas an, den Geiselaustausch auszusetzen.
Nachdem sich Israel und die Hamas nach mehr als einem Jahr Krieg in Westasien auf eine zunächst sechswöchige Waffenruhe geeinigt haben, sieht ein hochrangiger Vertreter der Hamas den Waffenstillstand als gefährdet an. Bassem Naim, Mitglied des Politbüros der Hamas, äußerte sich am Samstag besorgt über die mangelnde Umsetzung der vereinbarten ersten Phase des Abkommens und betonte, dass dies den gesamten Waffenstillstand ins Wanken bringen könnte.
Israel und die Hamas hatten unter Vermittlung der USA, Katars und Ägyptens eine vorläufige Waffenruhe vereinbart, die am 19. Januar in Kraft trat. Der Waffenstillstand sieht drei Phasen vor, die jeweils 6 Wochen dauern und unter Vermittlung von Ägypten und Katar sowie mit internationaler Unterstützung umgesetzt werden sollen. In der ersten sechswöchigen Phase des Waffenstillstands sollen israelische Geiseln gegen inhaftierte Palästinenser:innen ausgetauscht werden. In einer anschließenden zweiten Phase, die ebenfalls sechs Wochen dauern soll, sind weitere Freilassungen geplant: Alle verbliebenen lebenden Geiseln sollen gegen palästinensische Gefangene ausgetauscht werden, und geplant ist bisher auch, in dieser Phase alle israelischen Truppen aus dem Gazastreifen zurückzuziehen.
Waffenstillstand in Gaza? Fragezeichen hinter dem Deal zwischen Israel und der Hamas
Am vergangenen Samstag fand ein Gefangenenaustausch statt, bei dem drei israelische Gefangene gegen 183 palästinensische Inhaftierte freigelassen wurden. Unter den palästinensischen Gefangenen befanden sich 18 Personen mit lebenslangen Haftstrafen, 54 mit langjährigen Strafen und 111 Personen, die nach dem 7. Oktober inhaftiert worden waren.
Verzögerung bei Verhandlungen zur zweiten Phase des Waffenstillstands
Die Verhandlungen zur zweiten Phase des Waffenstillstands hätten bereits am Montag der vergangen Woche starten sollen, wurden jedoch verschoben. Erst am Samstag entsandte Premierminister Netanjahu eine Delegation nach Doha. Diese bestand aus Vertretern der IDF und israelischer Geheimdienste, sowie Gal Hirsch, den die israelische Regierung im Oktober 2023 zum „Beauftragten für Vermisste und Entführte” erklärt hatte.
Bisher wurden die Gespräche mit der Hamas aber meist von hochrangigen Teams unter Führung des Mossad-Chefs David Barnea geleitet. Die Entscheidung, nun eine weniger bedeutende Delegation zu schicken, könnte ein Signal sein, dass Premierminister Benjamin Netanjahu die Fortsetzung des Abkommens verzögern möchte. Noch dazu wurden der Delegation laut Medienberichten nicht die notwendigen Kompetenzen gegeben, über eine zweite Phase des Waffenstillstands zu verhandeln – dies soll scheinbar erst nach der gestrigen Sitzung des Sicherheitskabinetts geschehen. Die Entsendung der Delegation sei vielmehr eine Geste des guten Willens gegenüber US-Präsident Trump gewesen.
Hamas-Vertreter Bassem Naim kritisierte am Samstag die israelische Regierung für diese Verzögerung der Gespräche. Er erklärte jedoch zugleich, dass die Hamas keinen erneuten Krieg mit Israel anstrebe und weiterhin bereit sei, an der zweiten Phase der Verhandlungen teilzunehmen.
Hamas verschiebt Geiselaustausch
Eigentlich hätte am kommenden Samstag auch der nächste Geiselaustausch zwischen Israel und der Hamas stattfinden sollen. Jedoch kündigte die Hamas nun an, diesen auf unbestimmte Zeit zu verschieben. Als Begründung werden Israels kontinuierliche Verstöße gegen das Abkommen angeführt. Abu Obeida, ein Sprecher der Qassam-Brigaden erklärte: die Gefangenen „bleiben an Ort und Stelle, bis die Besatzungseinheit vergangene Verpflichtungen erfüllt und rückwirkend kompensiert“.
Laut dem Euro-Med Human Rights Monitor ist Israel seit dem Beginn der Waffenruhe am 19. Januar für weitere 110 tote Palästinenser:innen verantwortlich – sowohl durch direkte Tötungen durch die IDF, als auch durch das Verwehren von lebenswichtigen Behandlungen bereits Verwundeter. Außerdem blockiere die Besatzungsmacht die Lieferung von überlebenswichtigen Hilfsgütern wie zum Beispiel medizinischer Ausrüstung.
Der israelische Verteidigungsminister Israel Katz regierte damit, die IDF nun „auf höchster Alarmstufe für jedes mögliche Szenario in Gaza“ vorzubereiten.
Netanjahu innenpolitisch unter Druck
Ein Grund für die Verzögerung der Verhandlungen und die Verstöße gegen das Abkommen scheint unter anderem der innenpolitische Druck zu sein, den die eigene Regierung auf Premierminister Netanjahu ausübt: Im Januar hatte Finanzminister Bezalel Smotrich angekündigt, die Regierung zu verlassen, sollte Israel nicht wieder in den Kampf im Gazastreifen einsteigen. Smotrich forderte zudem, jegliche humanitäre Hilfe für den Gazastreifen einzustellen, Gebiete dauerhaft zu besetzen und die Auswanderung von Palästinensern aus Gaza zu fördern.
Zuvor waren bereits der faschistische Polizeiminister Itamar Ben-Gvir und zwei weitere Minister seiner nationalistisch-religiösen Partei aus Protest gegen das Abkommen aus Netanyahus Kabinett ausgetreten. Smotrich blieb zwar im Amt, drohte jedoch einmal mehr, dass er und seine Partei die Koalition verlassen würden, sollte Israel den Krieg vollständig beenden, ohne seine Ziele in Gaza – darunter die vollständige Zerschlagung der Hamas – erreicht zu haben.
Am Montag betonte Smotrich noch einmal, dass er zwar „erfreut“ sei, die Geiseln aus Gaza zurückkehren zu sehen, sich aber weiterhin gegen den Übergang in die zweite Phase des Abkommens ausspreche.
Trump plant „Riviera des Nahen Ostens“ und erntet internationale Empörung
Die Sorge um die Zukunft des Waffenstillstands zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen wächst zusätzlich durch die Pläne von US-Präsident Donald Trump: Dieser hatte am Dienstag vergangener Woche vorgeschlagen, den zerstörten Küstenstreifen zu „übernehmen“, die dort lebenden rund zwei Millionen Palästinens:innen umzusiedeln und das Gebiet in eine „Riviera des Nahen Ostens“ zu verwandeln.
Diese Idee fand – wie zu erwarten – bei faschistischen israelischen Politiker:innen wie Itamar Ben-Gvir oder auch Premierminister Netanjahu selbst Anklang, während internationale Organisationen wie die UNO oder Amnesty International, sowie eine Reihe an Staaten wie Ägypten, Jordanien, Iran, Russland, China, Türkei, Irland, Saudi-Arabien, Australien, Brasilien, Frankreich und Spanien den Vorschlag scharf kritisierten.
„Palästina: das sind wir“ – Standhafte Reaktion auf Trump-Ankündigung
Francesca Albanese, die UN-Sonderberichterstatterin für die besetzten palästinensischen Gebiete, bezeichnete den Vorschlag Trumps als „rechtswidrig, unmoralisch und völlig verantwortungslos“ und als eine Aufforderung zur Zwangsvertreibung, die ein internationales Verbrechen darstelle.
Riyad Mansour, Leiter der palästinensischen Delegation bei den Vereinten Nationen, reagierte mit einer Gegenforderung auf den Plan des US-Präsidenten, zwei Millionen Palästinenser:innen zu vertreiben: Den Bewohner:innen des Gazastreifens solle das Recht eingeräumt werden, in ihre ehemaligen Wohngebiete zurückzukehren, die heute auf israelischem Staatsgebiet liegen.
Berliner Polizei: Repressionen gegen Palästina-Demonstration
Auch Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock betonte, dass der Gazastreifen den Palästinenser:innen gehöre und eine Vertreibung der Bevölkerung inakzeptabel sowie völkerrechtswidrig sei. Baerbock unterstrich, dass eine Lösung nicht ohne die Beteiligung der Palästinenser:innen gefunden werden dürfe.
Währenddessen reagiert die Berliner Polizei auf palästina-solidarische Proteste jedoch einmal mehr mit Polizeigewalt: Videos in den sozialen Medien zeigen, wie Berliner Polizist:innen Demonstrant:innen zu Boden schubsen, Sanitäter:innen zurückstoßen und sitzende Demonstrant:innen gewaltsam aus einer Sitzblockade zerren. Redebeiträge, Musikdarbietungen und Sprechchöre auf arabisch sowie hebräisch und irisch wurden rigide untersagt.
Versammlungsfreiheit bei Palästina-Demos: Daten zeichnen unzureichendes Bild