Die Türkei und die pro-türkische SNA greifen seit Wochen immer wieder den Tishrin-Staudamm an, der für viele Menschen in der Selbstverwaltung Nord- und Ost-Syrien lebenswichtig ist. Dabei werden auch gezielt Zivilist:innen attackiert und getötet. Wir haben mit der deutschen Aktivistin Lea Bunse gesprochen, die vor kurzem bei einem dieser Angriffe verletzt wurde.
Du wurdest bei einem türkischen Drohnenangriff auf einer Mahnwache im kurdischen Rojava verletzt. Wie hast du diese Attacke erlebt?
Wir sind am 17. Januar gemeinsam mit Frauen aus der Nachbarschaft zum Tishrin-Damm gefahren. Ich bin gekommen, um selbst Zeugin des Geschehens zu werden, auch um Fotos und Videos zu machen. Denn ich denke, die Welt sollte sehen, wie die Menschen hier gemeinsam, entschlossen und friedlich protestieren, und dabei völkerrechtswidrig angegriffen werden.
Bereits am darauffolgenden Tag gab es mehrere Angriffe durch türkische Drohnen, die gezielt die versammelten Menschen bombardiert haben. Mehrere sind verletzt worden und einige dabei gestorben. Unter anderem auch der bekannte Schauspieler Bave Teyar und Kêfo, ein Fußballcoach aus Qamishlo.
Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft kamen, um sich für ein Leben in Freiheit und Frieden, für ihr Wasser und die Erde einzusetzen. Im Gedenken an Bave Teyar hat seine Theatergruppe aus Qamishlo dann ein Theaterstück auf dem Tishrin-Staudamm aufgeführt. Ich selbst wurde bei einem erneuten Angriff am 21. Januar verletzt, als wir gerade gemeinsam getanzt haben. Wie auch in einem Video zu sehen ist, das über digitale Medien verbreitet wurde, wurden zwei Bomben gezielt auf die Tanzenden abgeworfen.
Dabei bin auch ich getroffen worden und habe drei Teile – im Bauch, in der Brust und im Bein – abbekommen, obwohl ich mich in der zweiten Reihe befand. Wir konnten erst einige Tage später ins Krankenhaus, weil die Krankenwagen, die uns holen wollten, auf ihrem Weg auch immer wieder angegriffen wurden, und so ein Transport der Verletzten vom Damm unmöglich gemacht wurde. Ich bin jetzt noch immer im Krankenhaus, aber meine Situation ist im Vergleich zu der vieler anderer Verletzter nicht so schlimm. Viele andere werden vermutlich schwere, bleibende Folgen haben.
Angriffe auf den Tishrin-Staudamm und die Verteidigung von Kobane
Wie kommt es, dass du auf dieser Mahnwache warst? Was bringt einen Menschen aus Deutschland dort hin?
Ich bin in Deutschland vor allem als Klimagerechtigkeitsaktivistin engagiert gewesen und habe mich auf unterschiedliche Weise für Menschenrechte und den Klimaschutz eingesetzt. Zum Beispiel im Hambacher Forst. Dann habe ich gehört, dass hier in Nord-Ost-Syrien ein demokratisches System nach den Prinzipien der Frauenbefreiung, Basisdemokratie und Ökologie, basierend auf den Ideen von Abdullah Öcalan, aufgebaut wird. Ich habe viel dazu gelesen und mich dann entschlossen, es mir mit eigenen Augen anzuschauen. Ich bin jetzt seit 2,5 Jahren hier und sehe, wie dieses System für viele gesellschaftliche Fragen zu einer demokratischen Lösung im gesamten Mittleren Osten, aber auch für Europa und andere Regionen der Welt eine Antwort geben kann.
Die Jineolojî spielt dabei auch eine wichtige Rolle. Als eine neue Form der Wissenschaft der Frau und des Lebens bildet sie eine wichtige Grundlage für den demokratischen Aufbau und Veränderungen in der Gesellschaft hier. Ich arbeite nun hier mit der Jineolojî Akademie zusammen, die innerhalb der Gesellschaft verschiedene Forschungen durchführt und Projekte wie das Frauendorf Jinwar ins Leben gerufen hat. Auch dort habe ich eine Zeitlang gelebt.
Seit November letzten Jahres gibt es eine erneute Angriffsoffensive der Türkei, bei der die Gebiete Shehba und Minbic, in denen die Demokratische Selbstverwaltung praktiziert wurde, völkerrechtswidrig von der Türkei und ihren dschihadistischen Söldnergruppen besetzt wurden. Die Türkei strebt das Ziel an, die Gebiete westlich und östlich des Euphrat-Flusses unter ihre Kontrolle zu bringen, die Stadt Kobanê einzukesseln und schließlich einzunehmen, um eine 30 oder 50 Kilometer breite Puffer-Zone entlang der Grenze zu errichten. Um dagegen zu protestieren, organisiert die Bevölkerung seit dem 8. Januar eine ständige Mahnwache am Tischrin-Staudamm, der neben der geostrategischen Bedeutung für die Türkei auch große Wichtigkeit für die Versorgung der Bevölkerung in ganz Nordsyrien mit Wasser und Strom hat.
Erdoğan will kurdische Milizen „mit ihren Waffen im Boden vergraben“
Es ist von zentraler Bedeutung, die Situation in Rojava nicht nur aus der Perspektive geopolitischer Interessen zu betrachten, sondern die humanitären und demokratischen Bestrebungen der Bevölkerung vor Ort zu unterstützen. Die Angriffe der Türkei auf Rojava sind nicht nur ein Versuch, das Selbstbestimmungsrecht der KurdInnen zu unterdrücken, sondern auch eine Bedrohung für das Modell der demokratischen Autonomie, das dort aufgebaut wurde.
Das Modell in Rojava zeigt, dass eine gerechtere, gleichberechtigtere Gesellschaft, in der Frauen eine zentrale Rolle spielen, möglich ist. Es zeigt, dass alle Glaubens- und Kulturgruppen gemeinsam ihr Leben gestalten können. Diversität ist hierbei kein Hindernis, sondern eine Bereicherung. Dieses Modell ist eine realistische Lösung in einer Region, die unter Konflikten und autoritären Regimen, die durch Kolonialherrschaft geschaffen wurden, viel gelitten hat.
Dies bedeutet, dass wir die Menschen in Rojava nicht nur moralisch unterstützen, sondern auch ihre Forderungen nach Selbstbestimmung und demokratischen Rechten anerkennen und verteidigen sollten. Dies umfasst sowohl die politische Anerkennung der Demokratischen Selbstverwaltung, die Anklage der Kriegsverbrechen, als auch die Durchsetzung einer Flugverbotszone über Nord-Ost-Syrien, um weitere Angriffe auf lebenswichtige Infrastruktur und Massaker an der Zivilbevölkerung zu verhindern.
Wie sieht die Lage vor Ort und in Rojava insgesamt aus?
In Nord-Ost-Syrien werden wir seit 2011 Zeuginnen einer Revolution, des Aufbaues eines neuen Gesellschaftsmodells, bei dem die Befreiung der Frau im Zentrum steht. Errungenschaften können wir hier in Rojava, sowie in allen Teilen der Selbstverwaltungsregion sehen. Es wurde vor allem von der kurdischen Freiheitsbewegung inspiriert, die eine demokratische Autonomie anstrebt, bei der die lokale Bevölkerung selbstbestimmt über ihre Angelegenheiten entscheidet – ohne eine zentrale, hierarchische Regierung.
Dabei spielt die Idee des „Demokratischen Konföderalismus“ eine zentrale Rolle, die von Abdullah Öcalan entwickelt wurde. In diesem Modell arbeiten verschiedene ethnische und religiöse Gruppen, wie KurdInnen, AraberInnen, AssyrerInnen, ArmenierInnen und andere zusammen. Viele gesellschaftliche Institutionen und ein autonomes Frauensystem, in dem die Frauenbewegung Kongra Star, die Frauenräte, Frauenhäuser und andere Frauenorganisationen zusammenarbeiten, Orte für die Jugend, Kultur und Sport wurden aufgebaut. All das fand trotz widriger Bedingungen, Krieg und Embargo statt.
Ein zentrales Element des Modells ist die Rätedemokratie. Das bedeutet, dass Entscheidungen auf vielen verschiedenen Ebenen getroffen werden: in Dörfern, Städten und Regionen durch Volksräte, die aus lokal gewählten Vertreter:innen bestehen. Diese Räte sind dezentral organisiert, und Entscheidungen werden auf Grundlage der Konsensfindung getroffen. Frauen spielen in diesem Modell eine besonders wichtige Rolle: In den meisten politischen Strukturen gibt es eine doppelte Repräsentation, d. h. jede Institution hat einen Mann und eine Frau als Vertreter:in. Zudem gibt es autonome Frauenräte, die sich mit den spezifischen Problemen von Frauen befassen und Frauenpositionen zu allen gesellschaftlichen und politischen Fragen entwickeln und umsetzen.
„Die Kämpfe nehmen die Errungenschaften der Frauenrevolution ins Visier“
Die Türkei betrachtet das Modell in Rojava als Bedrohung für ihre Expansions- und Herrschaftspläne. Deshalb greift sie die Bevölkerung, die politischen und ökonomischen Strukturen in Rojava, aber auch in Nord- und Südkurdistan militärisch und politisch an. Es ist zynisch, das die türkische Regierung die Volksverteidigungseinheiten YPG und die Frauenverteidigungseinheiten YPJ, die bis heute eine wichtige Rolle im Kampf gegen den IS spielen, als „Terrororganisationen“ bezeichnet und zugleich den IS, SNA, HTS und andere Banden unterstützt, die grausame Massaker an Frauen und der Zivilbevölkerung begehen.
Nach dem Sturz des Regimes im Dezember 2024 bleibt noch vieles offen. Klar ist, dass die selbsternannten Machthaber eine langjährige Geschichte in dschihadistischen Strukturen haben, wie der Al-Nusra-Front, dem IS und Al-Qaida, und diese Ideologie tief verinnerlicht haben. Noch versprechen sie, die Rechte der Minderheiten zu schützen, und doch sehen wir an vielen Orten, dass die Praxis eine andere ist: Gerade Frauen sind mit vielen Angriffen auf ihre Rechte, Geschichte und Existenz konfrontiert. Wir sollten wachsam sein und uns nicht täuschen lassen. Vielmehr ist es wichtig, demokratischen Kräfte in Syrien zu unterstützen und allem voran den Stimmen von Frauen für eine demokratische Neugestaltung Syriens Gehör zu verleihen.
Wie schätzt du die Rolle Deutschlands im Krieg der Türkei gegen die kurdische Selbstverwaltung ein?
Deutschland ist seit vielen Jahren NATO-Partner der Türkei und hat sich daher in verschiedenen militärischen und politischen Aspekten eng mit Ankara verbunden. Diese Partnerschaft hat immer wieder dazu geführt, dass Deutschland die Türkei mit Waffenlieferungen und Rüstungsgeschäften unterstützt hat. Das galt für die Angriffe der türkischen Armee gegen kurdische Städte und Dörfer in Nordkurdistan genauso wie für die türkischen Offensiven gegen kurdische Gebiete in Syrien. Diese Waffen werden bei Angriffen auf zivile Infrastruktur, medizinische Einrichtungen, Wohnhäuser, Journalist:innen, Krankenwagen und Zivilist:innen eingesetzt.
Dabei ist es längst auch kein Geheimnis mehr, dass die Türkei auch den IS mit Waffen beliefert, und auch die HTS-Milizen, die vor kurzem das Regime von Baschar al-Assad gestürzt haben. Die aus vormaligen IS- und Al-Qaida-Kämpfern rekrutierte Gruppe SNA (Syrische Nationale Armee), die unter anderem als Bodentruppen für die völkerrechtswidrigen Invasionen in Sheba, Minbic und die Angriffe auf den Tischrin-Staudamm agiert haben, stehen direkt unter türkischem Kommando.
Die deutsche Bundesregierung hat sich zwar wiederholt besorgt über die türkischen Angriffe geäußert und fordert in diplomatischen Gesprächen eine Deeskalation, aber auf der praktischen Ebene fehlen bislang die notwendigen Schritte, um den Besatzungskrieg der Türkei und ihrer Söldnergruppen zu stoppen. Einerseits wird von Deutschland immer wieder betont, wie wichtig Demokratie und Menschenrechte sind, andererseits wird diese moralische Rhetorik von politischen und wirtschaftlichen Interessen überschattet.
Wenn die Bundesregierung einen konstruktiven Beitrag leisten will, sollte sie klar und deutlich die Demokratischen Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien anerkennen und sich in der Türkei für eine politische Lösung der kurdischen Frage einsetzen. Hierfür ist die Freilassung von Abdullah Öcalan und der Tausenden von politischen Gefangenen in der Türkei unverzichtbar. Das heißt, dass Deutschland sowohl innenpolitisch die Kriminalisierung und Repressionen gegen die kurdische Bewegung beenden muss, als auch außenpolitisch den Willen und das Selbstbestimmungsrecht der kurdischen Bevölkerung anerkennen muss.