In den letzten Wochen überschlagen sich die Warnungen vor einem drohenden russischen Angriff auf einen NATO-Staat. Der Airbus-Aufsichtsratschef fordert deshalb sogar taktische Atomwaffen für Deutschland. Das Kriegsgeschrei bildet die Begleitmusik zur deutschen Aufrüstungskampagne. – Ein Kommentar von Thomas Stark.
Geht es nach René Obermann, könnte Russland die NATO noch vor 2029 militärisch angreifen. Der Aufsichtsratschef des deutsch-französischen Luftfahrt- und Rüstungsmonopols Airbus ist davon überzeugt, dass der russische Präsident Wladimir Putin den Krieg weiter nach Europa tragen will. Dieser habe „sein Land auf Kriegswirtschaft umgestellt, er rüstet massiv auf – materiell, technologisch und mit 1,5 Millionen Soldaten im Zielzustand“, äußerte Obermann in einem Interview mit dem Handelsblatt.
Es gebe zudem „starke Indizien“ dafür, dass Russland sich auf einen Angriff an der NATO-Ostflanke vorbereite. Konkret spekulierte der frühere Telekom-Chef über einen möglichen Plan Russlands, die strategisch wichtige russische Exklave Kaliningrad über den schmalen polnisch-litauischen „Suwalki“-Korridor mit Belarus zu verbinden.
Der „letzte Sommer im Frieden“
Obermann sprach sich deshalb ebenso klar für eine europäische Unterstützung der Ukraine „mit allen verfügbaren Mitteln“ wie für eine Wiedereinführung der Wehrpflicht in Deutschland aus. Deutschland brauche die Systeme und KI-Trainingsdaten für eine moderne Kriegführung sowie ausreichende konventionelle Waffensysteme am Boden und in der Luft. Ebenso griff er die längst eröffnete Debatte über deutsche Atomwaffen auf und riet Deutschland, sich zusammen mit Frankreich und anderen Partnerländern taktische Atomwaffen zu besorgen.
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Der Rüstungsaufseher Obermann ist nicht die einzige prominente Stimme, die gerade laut vor einem Kriegsausbruch mit Russland in nächster Zeit warnt. Deutlich schriller noch lässt sich nämlich der Militärhistoriker Sönke Neitzel in der Bild-Zeitung zitieren und spricht vom möglichen „letzten Sommer im Frieden“.
„Wir sehen die Ankündigung eines großen Manövers der Russen in Belarus“, so Neitzel, „wir sehen die sehr große Angst der baltischen Staaten, dass die Russen im Zuge dieses Manövers über die Grenze kommen.“ Auch er verbindet seine Sturmwarnung mit Forderungen an die nächste Bundesregierung zur Neuaufstellung der Bundeswehr: „Ein Kanzler, wenn er denn Merz heißt, muss wirklich sagen: Das ist unser Kabinettsprojekt. Das hat jetzt Priorität“. Deutschland benötige neben fehlender Munition auch Infrastruktur wie Kasernen sowie Drohnentechnologie, Aufklärung und Luftabwehr. Daran fehle es bislang „massiv“, so Neitzel und stimmt damit in den Kanon der Kriegstreiber:innen in Deutschland und Europa ein.
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Begleitmusik zur Aufrüstung
Die Äußerungen Obermanns und Neitzels dürften vor allem dazu dienen, die aktuelle Aufrüstungsdebatte in die von ihnen gewünschte Richtung zu lenken. Die künftige Regierungskoalition aus Union und SPD hat kürzlich zusammen mit den Stimmen der Grünen im alten Bundestag die Kosten für Aufrüstung von der Schuldenbremse ausnehmen lassen und damit die rechtlichen Schranken für künftige Kriegskredite beseitigt. Zusammen mit einem Infrastrukturprojekt in Höhe von 500 Milliarden Euro will die künftige Regierung voraussichtlich einen hohen dreistelligen Milliardenbetrag in die Aufrüstung stecken. Ehemals waren weitere 500 Milliarden Euro geplant, jetzt ist das Militärbudget sogar nach oben offen. Die EU-Kommission legt europaweit noch einmal 800 Milliarden Euro obendrauf. Unvorstellbare Summen für die Kriegsvorbereitung also.
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Das heißt auch: Hier gibt es viel Geld zu verdienen. Vor allem Obermann hat als Airbus-Chef deshalb ein unmittelbares Interesse daran, die Debatte über die kommenden Ausgaben mitzugestalten. Der Rüstungskonzern mit Sitz im niederländischen Leiden wird in jedem Fall kräftig profitieren, wenn in Europa die Waffen- und Munitionsproduktion weiter hochskaliert wird. Zusammen mit dem französischen Rüstungskonzern Dassault entwickelt Airbus schon heute das „Kampfflugzeug der Zukunft“ FCAS (Future Combat Air System).
Ebenso ist Airbus zusammen mit BAE Systems aus dem Vereinigten Königreich und Leonardo aus Italien am Unternehmen MBDA beteiligt, welches das Marschflugkörpersystem LCM (Land Cruise Missile System) entwickeln soll – und zwar mit einer geplanten Reichweite bis tief in russisches Staatsgebiet.
Realistisches Szenario?
Da macht es schon rein geschäftlich Sinn, bei der Warnung vor russischen Angriffsplänen zu übertreiben: Auch das Handelsblatt sprach Obermann im Interview darauf an, dass Russlands Armee schon in der Ukraine überfordert sei. Tatsächlich hat sich der Frontverlauf im Südosten der Ukraine seit Ende 2022 nur geringfügig verändert.
Russland ist zwar schon seit geraumer Zeit im Vorteil und die ukrainische Armee gilt als einigermaßen aufgerieben. Von einem russischen Durchmarsch kann aber keine Rede sein, zumal sich die Anzeichen mehren, dass die Kriegswirtschaft des Landes an ihre Grenzen stößt. In einer solchen Situation einen russischen Angriff auf NATO-Territorium vorherzusagen, lässt ein gewisses Eigeninteresse oder Voreingenommenheit in der Analyse vermuten.
Die ständigen Warnungen vor einem russischen Angriff auf Europa dürften neben den geschäftlichen Interessen stattdessen vor allem dem Zweck dienen, die Bevölkerung in Deutschland in Angst und Schrecken zu versetzen und sie auf neue Zumutungen wie die Wehrpflicht einzuschwören. In Umfragen erklären sich seit Jahren nur 17 % bis 19 % der Befragten bereit, bei einem militärischen Angriff auf Deutschland das Land „selbst mit der Waffe zu verteidigen“.
Eine Mehrheit von 60 Prozent äußerte auf die entsprechende Forsa-Frage laut „Stern“ noch im Februar „wahrscheinlich nicht“ oder „auf keinen Fall“.  Auch der Enthusiasmus in der Bevölkerung, Krieg und Aufrüstung mit Steuern und steigenden Preisen zu bezahlen, stößt schon jetzt an harte Grenzen. Nicht zuletzt zählt die ständige Warnung vor einem bevorstehenden gegnerischen Angriff zu den ältesten Taktiken, um selbst einen Krieg vorzubereiten.
Widersprüche in Europa
Besonders kreativ reiht sich Carlo Masala von der Bundeswehr-Universität in München in die Reihe der Kriegsprophet:innen ein. In seinem fiktionalen Buch „Wenn Russland gewinnt. Ein Szenario“ malt er aus, wie Russland im Jahr 2028 kalkuliert das NATO-Bündnis sprengt, indem es zuerst die Migration aus Afrika forciert, seinen Verbündeten China ein Riff im Südchinesischen Meer besetzen lässt und dann selbst die estnische Kleinstadt Narva sowie eine kleine Insel in der Ostsee militärisch einnimmt. Europa und die USA können sich in diesem Szenario nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigen. Interessant.
Masalas Roman, in dem Russland die Westmächte gegeneinander ausspielt, dürfte immerhin deutlich näher an der Realität liegen als alle Spekulationen über ein „All-in“ Moskaus gegen die NATO. Schon jetzt mehren sich die Anzeichen dafür, dass die Widersprüche zwischen den USA und den europäischen Ländern sowie zwischen Deutschland, Frankreich und dem Vereinigten Königreich in Zukunft stärker werden könnten. Sichtbar wird das etwa daran, dass sich die EU nicht auf eine gemeinsame Luftabwehr einigen kann.
Bei den ständigen Warnungen vor einem Krieg in Osteuropa sollte man daher nicht vergessen, dass sich ein Großteil der früheren europäischen Kriege gerade im Westen, zwischen Deutschland, England und Frankreich abgespielt hat. Vielleicht wird dieses Extremszenario in einigen Jahren realistischer sein, als es sich heute jemand vorstellen kann. Wo der Krieg stattfinden wird, ist unklar. Dass ein noch größerer Krieg als der um die Ukraine bevorsteht, dafür wird derzeit in Deutschland an allen Fronten aufgerüstet. Dagegen lohnt es sich viel eher, sich zur Wehr zu setzen.