Syrien hat erneut Gefechte mit Anhängern des alten Regimes durchlebt, in deren Zuge es auch zu Gewaltexzessen gegen vorwiegend alawitische Zivilist:innen kam. Die Rolle der neuen Regierung ist dabei eine sehr fragwürdige. Die Ereignisse zeigen, dass konfessionelle Vorurteile in Syrien eine lange Geschichte haben. – Ein Kommentar von Ali Najjar.
Über 3 Monate ist es her, dass in Syrien der langjährige Machthaber Baschar al-Assad gestürzt wurde. An die Stelle des verhassten Regimes unter der arabisch-nationalistischen Baath-Partei ist eine Übergangsregierung getreten, die größtenteils aus Mitgliedern von HTS (dt. Komitee zur Befreiung Syriens) besteht. An ihrer Spitze steht Ahmad al-Sharaa als Übergangspräsident.
Dass es jetzt nach 14 Jahren Bürgerkrieg und über 50 Jahren Herrschaft der Assad-Familie zum entscheidenden Umsturz kam, heißt aber noch lange nicht, dass Frieden und Stabilität in Syrien eingekehrt sind.
Zum einen waren an der Offensive „Deterrence of Aggression“ Ende November, die das Ende des Assad-Regimes besiegelte, von der Türkei kontrollierte Söldner-Verbände unter der Bezeichnung Syrische Nationalarmee (SNA) beteiligt.
Diese haben im Zuge des überraschend schnellen Vormarschs ihre Angriffe weniger gegen die Assad-Truppen, sondern gegen die selbstverwalteten Gebiete in Nordost-Syrien gerichtet. Diese Gebiete umfassen Westkurdistan (Rôjava) und Territorien östlich des Euphrats.
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Dazu wurde immer wieder von bewaffneten Assad-Loyalisten berichtet, die sich auch nach dem Kollaps des Regimes und seiner Armee entlang der westlichen Mittelmeerküste, in den Provinzen Tartus und Latakia aufhalten sollen.
Genau hier kam es Anfang März zu koordinierten Angriffen auf Kräfte der Übergangsregierung, die allem Anschein nach von Generälen des alten Regimes angeleitet wurden. In der darauf folgenden Eskalation bestätigte sich das Misstrauen, das viele Akteur:innen inner- und außerhalb Syriens den neuen Machthabern entgegenbringen.
Religiöse Identitäten im syrischen Bürgerkrieg
Religiöse Identität ist im Laufe des Kriegs in Syrien immer wieder zum politischen Faktor geworden: Die Assad-Familie selbst entstammt der syrisch-alawitischen Religionsgemeinschaft (nicht zu verwechseln mit den anatolischen Alevit:innen, die kurdisch- oder türkischsprachig sind). Die alawitische Strömung entstand im 9. Jahrhundert als esoterische Geheimreligion aus dem schiitischen Islam. Ihre Anhänger:innen flohen damals in die Berge entlang der syrischen Küste, um religiöser Verfolgung zu entgehen.
Das Assad-Regime stützte sich zum Teil auf die Gruppenloyalität dieser religiösen Minderheit und produzierte eine gezielte Propaganda, die den syrischen Alawit:innen vermittelte, dass sie ohne das Regime der sunnitischen Mehrheitsbevölkerung schutzlos ausgeliefert seien. Aus diesem Grund geraten Alawit:innen schnell unter den Generalverdacht, durchweg Assad-Anhänger:innen zu sein.
Zutreffend ist: Der Hass auf Andersgläubige und vermeintliche „Ketzer“ hat im sunnitsch-fundamentalistischen und salafitischen Islam einen festen Platz.
Die Rolle des HTS
Der Aufstieg von HTS zur relevanten Kraft innerhalb der syrischen Opposition zeigt, wie der Fundamentalismus auch als politische Perspektive in Syrien an Einfluss gewann. Die Organisation entstand in direkter Linie aus dem ehemaligen al-Qaida-Ableger in Syrien, der von al-Sharaa gegründeten Nusra Front.
Als Kämpfer – damals noch unter dem Namen al-Jolani – hat der heutige Präsident Syriens sogar der Vorläuferorganisation des sogenannten Islamischen Staats (IS) im Irak angehört, wo er seine militärische und politische Karriere begann. Das HTS versuchte bereits seit Jahren, einen ideologischen Wandel glaubhaft zu vermitteln.
In ihrem Entstehungsprozess aus mehreren Umbenennungen und inneren Kämpfen geriet die Gruppe zwar in direkten militärischen Konflikt mit al-Qaida und dem sogenannten IS. Die wesentlichen Elemente einer fundamentalistischen Ideologie sind beim HTS jedoch nach wie vor deutlich präsent.
Der Unterschied zu radikaleren Gruppen liegt darin, dass HTS seine Vorstellungen im Rahmen eines Nationalstaats verwirklicht sehen will. Dementsprechend hat die Gruppe auch Ende Januar ihre Auflösung verkündet und ihre Kämpfer in die neu gegründete Regierung unter dem Verteidigungsministerium integriert.
Damit, ihre Stellung als neue Machthaber in Syrien zu festigen, scheinen al-Sharaa und seine Unterstützer:innen allerdings so ihre Probleme zu haben.
Rolle anderer Milizen
Die aktuellen Gewaltexzesse gegen alawitische Zivilist:innen können so gedeutet werden, dass die neue Regierung in Syrien sich zu einem relativ hohen Teil auf unabhängige und schwer zu kontrollierende fundamentalistische Milizen stützt, für die eine Bekämpfung und Ausrottung von „Ungläubigen“ aus Rache ein eigenständiges Ziel darstellt und noch vor dem Aufbau staatlicher Strukturen steht. Dabei soll es sich auch um Gruppen der türkisch kontrollierten SNA handeln.
Ahmad al-Sharaa hat in einer Ansprache zwar anerkannt, dass es zu Ermordungen von Unschuldigen kam und diese verurteilt, die Massaker aber gleichzeitig heruntergespielt und als Einzelfälle relativiert. Auch wenn al-Sharaa also weiterhin die Waffen und Kampfbereitschaft der Fundamentalisten benötigt, muss er zugleich dafür sorgen, dass diese sein „Nation Building“ und seine Bemühungen um internationale Anerkennung und Legitimität nicht sabotieren.
Das bringt die Übergangsregierung in ein Abhängigkeitsverhältnis zu den radikaleren Gruppen, sodass diese – wie zuletzt bei den Auseinandersetzungen an der Küste – relativ unbehelligt bei ihren Racheakten gegen Minderheiten bleiben.
Offiziell hat die Übergangsregierung die Operation gegen Assad-Anhänger an der Küste jedenfalls für beendet erklärt. Im Zuge dessen wurden auch einzelne Täter der Massaker von den neuen Autoritäten verhaftet. Es wird sich zeigen, ob dahinter und hinter einer angekündigten Untersuchungskommission mehr steht als bloße Beschwichtigungs- und Symbolpolitik.
Massaker an Alawit:innen
Glaubwürdige Schätzungen gehen bisher von etwa 1.000 zivilen Opfern durch Rache-Massaker aus – motiviert durch konfessionellen Hass. Die Gewalttaten der fundamentalistischen Kämpfer sind gut dokumentiert, weil sich einige von ihnen selbst dabei filmten, wie sie Alawit:innen ermordeten oder erniedrigten, um im Internet damit zu prahlen.
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Gleichzeitig sind auch viele Falschmeldungen im Umlauf: Dazu zählen Aufnahmen von Gewaltszenen aus anderen Kontexten, etwa aus früheren Jahren des syrischen Bürgerkriegs. Auch Zahlen von 7.000 bis 8.000 zivilen Opfern, die kursieren, scheinen eher maßlos übertrieben.
Hierbei muss erwähnt werden, dass Staaten wie Iran und Russland, die mit dem Umsturz in Syrien an Einfluss in der Region verloren haben, ein Interesse daran haben, das Land zu destabilisieren. Sie könnten mit ihren noch bestehenden Verbindungen zu den Resten des alten Regimes durchaus eine Rolle bei den aktuellen Auseinandersetzungen gespielt haben und auch am Informationskrieg beteiligt sein.
Zukunft in Syrien bleibt ungewiss
In Syrien und in der seit 2015 stark angewachsenen syrischen Diaspora sind viele Menschen immer noch skeptisch und besorgt bezüglich der Zukunft ihres Landes. In Berlin haben in Reaktion auf die Massaker an der Küste z.B. Syrer:innen mit verschiedenen ethnischen und konfessionellen Hintergründen eine Kundgebung vor der syrischen Botschaft organisiert. Dabei wurde Trauer und Wut genauso ausgedrückt, wie auch der Wille, die Vorurteile und die chauvinistische Gewalt zu überwinden, die Syrien seit Jahrzehnten und besonders in den Kriegsjahren gequält haben.
Die Menschen sind nicht bereit zu akzeptieren, dass am Ende als Ergebnis der syrischen Revolution dieselben Muster und Gewaltspiralen wiederholt werden. Auch ein Aufruf, der von der sozialistischen Partei des Volkswillens initiiert wurde, ruft zur Wahrung des gesellschaftlichen Friedens und zur nationalen Einheit auf.
Währenddessen wurde im Dialogprozess zwischen der Selbstverwaltung in Nordost-Syrien und der Übergangsregierung ein weiterer großer Schritt getan: Mit einem Abkommen werden formal die nationalen Rechte der Kurd:innen in Syrien anerkennt und zu einem umfassenden Waffenstillstand im ganzen Land aufgerufen.
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Auch dieser Schritt weckt vorsichtige Hoffnungen. Denn welchen Weg das neue Syrien einschlägt, wird auch maßgeblich davon abhängen, wie die revolutionären Errungenschaften der Selbstverwaltung die Zukunft des Landes mitgestalten.