Seit der Inhaftierung des Bürgermeisters von Istanbul gehen in der Türkei Millionen von Menschen in vielen Städten des Landes auf die Straßen und protestieren gegen die anhaltende staatliche Repression. Mittlerweile haben sich die Demonstrationen in landesweite Aufstände entwickelt – doch wie kann es weitergehen?
Die Ereignisse und politischen Vorgänge in der Türkei und Nordkurdistan, die in den letzten Monaten stattfanden, zeigen, dass der türkische Staat und die AKP/MHP-Regierung ihre Macht sichern will. Auch die Zwangsverwaltungen einiger kurdischer Städte letztes Jahr zeigen diese Tendenzen klar. Die Angriffe des faschistischen Regimes, Repressionen und Verhaftungenwellen betrafen zunächst vor allem Revolutionär:innen und kurdische Institutionen. Der türkische Staat greift jetzt auch die bürgerliche Opposition und die CHP als stärksten Kontrahenten an.
Ekrem İmamoğlu, der CHP-Bürgermeister von Istanbul, wurde vor diesem Hintergrund am 19. März verhaftet. Ihm wurde die Zusammenarbeit mit PKK-nahen Kräften (in dem Fall die demokratische DEM-Partei) und Korruption vorgeworfen. Die CHP hatte vor, İmamoğlu bereits jetzt für die Präsidentschaftswahlen 2028 aufzustellen. Der Druck auf Erdoğan wäre so deutlich höher. Eine Voraussetzung für die Präsidentschaftskandidatur – ein Hochschulabschluss – wurde İmamoğlu aber kurzerhand aberkannt.
Massenproteste gegen das Regime: Eine Frage der Zeit
Das Regime will nicht nur die CHP, sondern auch Istanbul als politisches Zentrum schwächen. Die Metropole ist das Herz des Aufstands, politischer Vorgänge und spielt eine wichtige Rolle in der Verwaltung des türkischen Kapitals. Die Kommunalwahlen 2024 in Istanbul gewann die CHP, was einen großen Sieg gegenüber der AKP/MHP-Regierung darstellte.
So gesagt war es nur eine Frage der Zeit, bis die Massen auf die Armutskrise, den offenen Staatsterror und fehlende politische Freiheiten antworteten. Die Proteste wurden von CHP-Anhänger:innen und Kemalist:innen begonnen, haben aber schnell den Charakter eines Volksaufstands verschiedener demokratischer Kräfte angenommen. Verschiedene Teile der Gesellschaft und politische Lager kommen wie auch in Gezi im Jahr 2013 zusammen und tragen ihre Forderungen auf die Straßen der Metropolen. Die Gezi-Park-Proteste 2013 begannen als Demonstrationen gegen die Zerstörung eines Parks, die sich schnell zu breiten aufstandsartigen Massenprotesten gegen das türkische Regime entwickelten.
Sie alle fordern demokratische Wahlen, ein Ende der diktatorischen Politik Erdogans, Freiheit für politische Gefangene und etliche weitere demokratische Veränderungen. Auf der Straße vereinen sich die Kräfte gegen das türkische Regime und die faschistische Politik.
Die CHP – kein revolutionärer Bündnispartner
Nach der Festnahme İmamoğlus folgten weitere Festnahmewellen gegenüber 100 weiteren Personen, darunter Journalist:innen, Künstler:innen, Unternehmer:innen und Mitarbeiter:innen der Stadtverwaltung – eine Strategie der Einschüchterung, die üblich ist. „Ruhe bewahren“, sagte die CHP deshalb nach der Festnahmewelle. Die Partei stellt sich damit in diesem entscheidenden Moment nicht konsequent auf die Seite der Massen, die ein rasches Ende der faschistischen Diktatur fordern. Sie will ihre Stellung in der türkischen Politik sichern.
Zu den unzähligen Angriffen der AKP/MHP-Regierung auf die Arbeiter:innen und Unterdrückten oder die Zwangsverwaltungen in Nordkurdistan und die Angriffe auf das kurdische Volk bezog die Oppositionspartei keine klare Stellung. Der Abschaffung der Immunität von Abgeordneten, die z.B. zur Inhaftierung von Figen Yüksegdag und Selahatin Demirtas führten, und auch den neuen Kriegsbefugnissen stimmte die Partei zu. Auch wenn sie Teil der Opposition ist und einen anderen politischen Kurs als die faschistischen Parteien wie AKP und MHP fährt, steht sie doch klar auf der Seite des türkischen Kapitals.
Die Protestierenden antworteten nach Aufrufen zur Beruhigung seitens der CHP deutlich mit Slogans wie „Befreiung ist auf der Straße, nicht an der Wahlurne“, „feige CHP“, „Özgür Özel, komm und werde mit uns gepfeffert“. Die Proteste haben bereits nach wenigen Tagen einen empörten Aufschrei überschritten und das systemkonforme Korsett verlassen. Ähnliche Aufopferung und Militanz gab es in den letzten Jahren in Van bei den Protesten gegen die Zwangsverwaltungen und zum Teil bei den Bogazici-Universitätsprotesten.
Studierende in den ersten Reihen
An vorderster Front der Proteste sind vor allem Studierende, die eine Vorhut der Jugend bilden. Auf Social Media-Plattformen sind Videos zu sehen, bei denen Polizeibarrikaden durchbrochen und sich gegen Wasserwerfer verteidigt wird. Die meisten Protestzüge wurden von Student:innen initiiert. Die Jugend ist eine treibende Kraft in den Massenbewegungen. Sie tritt hier erneut an die vorderste Front und führt den Protest unüberhörbar an. Auf den Straßen Istanbuls, Ankaras, Izmirs und in immer mehr weiteren Städten zeigt sich, dass sich klar gegen den Raub des Volkswillens positioniert wird und die demokratischen Forderungen auch militant erkämpft werden sollen.
Es ist ein Moment, in dem als vereinte Bewegung Druck auf das Regime aufgebaut wird. Es bleibt offen, ob die verschiedenen Kräfte sich vereinen können und ob chauvinistische Charakterzüge gegen Kurd:innen – welche zweifelsohne in den Protesten existieren – abgelegt werden können. Istanbul ist zwar das Herz der Proteste, doch in den letzten Monaten hat sich in Van, Colemerg und weiteren Städten Nordkurdistans mit dem Newroz-Fest gezeigt, dass das kurdische Volk eine entscheidende Komponente in einem potentiellen, landesweiten Aufstand ist.
Ob die Proteste noch länger anhalten und einen Wandel bringen, wird sich dadurch zeigen, ob die Massen es schaffen, über die Grenzen der bürgerlichen Opposition hinauszugehen – ob sie es schaffen, nicht nur auf angemeldeten Kundgebungen zu stehen, sondern sich die Viertel und Straßen zu nehmen. Hierbei ist unter anderem die Eroberung des Taksim-Platzes als Bühne des Aufstands landesweit entscheidend. Denn am Taksim-Platz wurde und wird Geschichte geschrieben.