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Türkei: Erdoğan lässt Kontrahenten festnehmen

Ekrem İmamoğlu, der Istanbuler Oberbürgermeister und designierter Präsidentschaftskandidat der oppositionellen CHP, wurde inhaftiert. Türkische Zeitenwende oder normales Programm? Was tun gegen ein faschistisches Regime? – Ein Kommentar von Alex Lehmann.

Am Dienstag um 7:30 Uhr (Ortszeit) wurde Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu von den türkischen Behörden festgenommen und zur Vernehmung in U-Haft gebracht. Ihm wird vorgeworfen, in seinem Amt als Bürgermeister Gelder veruntreut zu haben. Außerdem wird ihm die Unterstützung der in der Türkei als „Terrororganisationen“ verbotenen Partiya Karkerên Kurdistanê (PKK, deutsch: Arbeiterpartei Kurdistans), sowie der Koma Civakên Kurdistan (KCK, deutsch: Union der Gemeinschaften Kurdistans) vorgehalten.

Ebenfalls wurden über 87 andere İmamoğlu nahestehende Politiker:innen, Journalist:innen und Unternehmer:innen am Mittwoch festgenommen –  und weitere 37 Personen wegen „provokanter“ Beiträge in den sozialen Medien. Einher ging dieser Angriff auf die Opposition mit einem viertägigen Demonstrationsverbot in Istanbul, sowie der Sperrung zahlreicher Onlineplattformen und sozialer Medien.

Wer ist Ekrem İmamoğlu?

İmamoğlu ist ein Politiker der nationalistischen und säkularen CHP (Cumhuriyet Halk Partisi, deutsch: Republikanische Volkspartei), die 1923 vom Staatsgründer und dem erstem Präsidenten der Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, gegründet wurde. Er gilt als größter Konkurrent Erdoğans. Die CHP ist die größte Oppositionspartei des Landes: Mit insgesamt 37,74 Prozent ist sie bei den Kommunalwahlen im vergangenen Jahr zur zweitstärksten Kraft, hinter Erdoğans faschistischer AKP, gewählt worden.

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Zwischen 2014 und 2019 war İmamoğlu bereits Bürgermeister des Istanbuler Bezirks Beylikdüzü, bevor er bei den Bürgermeisterwahlen 2019 als Kandidat der CHP antrat und gewann. 2024 wurde İmamoğlu erneut mit einer Mehrheit von etwa 50 Prozent zum Istanbuler Bürgermeister gewählt. Am kommenden Sonntag wollte sich der Politiker zum Präsidentschaftskandidaten der CHP aufstellen lassen.

In vielen deutschen Medien wird İmamoğlu aktuell zu einem demokratischen Volkshelden inszeniert. Und ja: natürlich ist die Festnahme İmamoğlu ein Angriff auf die wenigen demokratischen Rechte, die es in Erdoğans Türkei noch gibt. Trotzdem sind İmamoğlu und vor allem seine Partei, die CHP, keine unbeschriebenen Blätter.

Vor allem handelt es sich bei der CHP nicht um eine sozialdemokratische, sondern eine rechte, kemalistische Partei: angefangen bei der blutigen Staatsgründung der Republik über Pogrome gegen die griechische, armenische, alevitische und kurdische Bevölkerung, das Massaker von Dersim bis hin zur Unterstützung des Hitler-Faschismus gab es tausende anderer Verbrechen, die unter der Regierung der CHP vom türkischen Staat begangen wurden.

Die Partei hat sich seit den 1950er-Jahren in einigen Belangen zwar liberalisiert und steht heute ideologisch nicht mehr für alle Ideale des Parteigründers. Trotzdem vertritt sie bis jetzt noch beispielsweise klar nationalistische Positionen und unterstützt die kriegerische Außenpolitik des Regimes in großen Teilen.

Putsch? Staatsreich? Neu?

Das Vorgehen Erdoğans gegen İmamoğlu und die CHP muss auch in den Kontext der allgemeinen politischen Lage in der Türkei gesetzt werden. Fritz Zimmermann zum Beispiel kommentiert die Repressionswelle bei Zeit Online unter dem Titel: „Die Türkei ist nun ein anderes Land“. Es entsteht der Eindruck, als wäre mit der Verhaftung İmamoğlu das bisher lupenrein demokratische System der Türkei beschmutzt worden.

Dabei handelt es sich bei der AKP-MHP-Regierung Erdoğans eben nicht um eine demokratische Regierung, sondern um ein faschistisches Regime. Eine freie Presse oder demokratische Wahlen gibt es unter seiner Herrschaft in der Türkei schon lange nicht mehr. Und auch gegen politische Gegner:innen geht das Regime schon immer mit Verhaftungen, Organisationsverboten und massiver Gewalt vor.

20 Jahre Erdogan: Wie die AKP ein faschistisches Regime errichtete

Beinahe monatlich gibt es Verhaftungswellen. Erst im Januar wurden 34 Aktivist:innen der sozialistischen Partei ESP, der sozialistischen Jugendorganisation SGDF, der sozialistischen Frauenorganisation SKM und der Nachrichtenagentur ETHA verhaftet. Darunter auch die Ko-Vorsitzende der SGDF, Berfin Polat, die schon zuvor im September 2024 verhaftet wurde. Vorgeworfen wird den Verhafteten die „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“. Figen Yüksekdağ, Mitbegründerin der ESP, wurde im vergangenen Jahr zu 30 Jahren Haft verurteilt.

Die Verhaftung İmamoğlus verwandelt die Türkei also nicht von einer Demokratie in eine Diktatur, sondern ist ein weiterer Schritt in die Richtung, in die Erdoğan und das AKP-MHP Regime schon seit über einem Jahrzehnt beschreiten. Trotzdem muss man natürlich festhalten, dass die Festnahme des größten Konkurrenten einen sehr großen und deutlichen Schritt in diese Richtung darstellt.

Deutschland, EU und Türkei

Das Auswärtige Amt hat währenddessen in einer Presseerklärung verlauten lassen, dass die Türkei „nicht nur als Mitglied des Europarats, sondern auch als Beitrittskandidat zur Europäischen Union […] die demokratischen und rechtsstaatlichen Grundprinzipien zu gewährleisten (hat), zu denen sie sich selbst verpflichtet hat.“

Und auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) hält die Festnahme für „äußerst besorgniserregend“. Leere und heuchlerische Phrasen – nicht nur, weil die EU-Vertretung ganz genau weiß, mit welchen Methoden Erdoğan in der Türkei regiert, sondern weil sie auch jetzt keine einzige ernstzunehmende Maßnahme gegen sein Regime ergreifen wird.

Dies gerade jetzt, wo nach dem Sturz des Assad-Regimes in Syrien ohne die Unterstützung der Türkei nichts läuft, Erdoğan sich zum größten Freund und Unterstützer der Ukraine stilisiert und Geflüchtete daran hindert, in die EU zu kommen.

Schulter an Schulter gegen den Faschismus!

Und selbst, wenn sich die EU für die Freilassung İmamoğlus einsetzen würde und er zur nächsten Wahl antritt, würde sich wohl wenig an der politischen Lage des Landes ändern. Denn der Faschismus lässt sich eben nicht an der Wahlurne bekämpfen – weder in der Türkei, noch in Deutschland oder sonstwo. Diese Festnahme zeigt klar und deutlich: Das AKP-Regime wird die eigene Macht nicht einfach so aufgeben.

Was es braucht, ist militanten, unversöhnlichen und konsequenten Antifaschismus. Ein Antifaschismus, der sich natürlich für alle demokratischen Rechte und gegen deren Abbau einsetzt, aber auch klarmacht: Dieser Staat und seine Lakaien werden im Kampf gegen den Faschismus nicht auf unserer Seite der Barrikade stehen.

Alex Lehmann
Alex Lehmann
Perspektive Autor seit 2023. Jugendlicher Arbeiter im Einzelhandel aus Norddeutschland, schreibt gerne Artikel um den deutschen Imperialismus und seine Lügen zu enttarnen. Motto: "Wir sind die Jugend des Hochverrats!"

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