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Zeitenwende 2.0: Europa rüstet auf

In den letzten Tagen scheint es so, als wäre die westliche Welt auf den Kopf gestellt worden. Trump entzieht der Ukraine die Unterstützung, die EU mobilisiert hunderte von Milliarden für eine neue Aufrüstungskampagne und Militärexperten reden vom Ende der NATO. – Ein Kommentar von Alex Lehmann.

Die amtierende EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen will Europa „wiederaufrüsten“. Konkret schlägt sie einen gemeinsamen Wehretat in Höhe von 800 Milliarden Euro vor, um die EU militärisch unabhängiger von den USA zu machen – sicherlich auch als Reaktion darauf, dass Trump alle Militär- und Geheimdiensthilfen für die Ukraine eingestellt hat.

Der dafür von ihr aufgestellte „Fünf-Punkte-Plan” sieht unter anderem Lockerungen der Schuldenregelungen und Anreize zur Steigerung der Militärausgaben für die einzelnen Mitgliedstaaten vor: „Die echte Frage ist, ob Europa bereit ist, so entschieden zu antworten, wie die Situation es erfordert.“, so von der Leyen.

Warum wird gerade jetzt aufgerüstet?

Mit der „Situation“, auf die von der Leyen anspielt, ist dabei wohl die strategische Neuausrichtung und der neue Ton der USA gemeint. Seit der Wiederwahl von US-Präsident Donald Trump, so scheint es, sind Entwicklungen angestoßen worden, die man getrost als „historisch” betrachten kann.

Als erster einschneidender Teil dieser Entwicklungen gilt vielen der Auftritt von US-Vizepräsident J.D. Vance auf der diesjährigen Münchener Sicherheitskonferenz. Auf ihr kommen jährlich die wichtigsten Persönlichkeiten aus Politik, Militär und Waffenindustrie zusammen, um ihre Deals auszuhandeln. „J.D. Vance hat uns den Mittelfinger gezeigt“, so fasste der frühere Außenminister Sigmar Gabriel den Auftritt des US-Vizepräsidenten auf der diesjährigen Konferenz zusammen.

Vance redete über die europäische Demokratie, als ob sie sich in Teilen des Kontinents im Niedergang befände. Als Beispiele dafür führte er Sanktionen gegen rechten politischen Aktivismus und rechte Parteien an. Zudem äußerte er 9 Tage vor der Bundestagswahl, es dürfe keinen Platz für „Brandmauern“ geben. Nach seiner Rede verließ Vance die noch laufende Konferenz für ein Treffen mit der AfD-Vorsitzenden Alice Weidel.

Der Auftritt läutete das ein, was viele europäische Politiker:innen mit der Wahl von Trump bereits befürchteten: Die transatlantischen Beziehungen sind, in ihrer bisherigen Form, Geschichte. Der Historiker Herfried Münkler spricht im Handelsblatt-Interview von „Vorläufern einer neuen Weltordnung“ und davon, dass Trump die Europäische Union zerstören wolle.

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Eklat in Washington

Der zweite Akt dieses Theaters war der Besuch Wolodymyr Selenskyjs im Weißen Haus. Die allermeisten werden die absurden Szenen oder die dazugehörigen Fotos gesehen haben. Unter anderem will Vance, dass der ukrainische Präsident sich öfter und demütiger bedankt und auch mal einen Anzug anzieht, wenn er den US-Präsidenten besucht. In Teilen wirkt das Gespräch wie ein Comedy-Sketch.

Dabei hätte das Thema kaum ernster sein können, ging es schließlich um nicht weniger als den Rohstoffdeal zwischen den USA und der Ukraine. Am Ende wird der ukrainische Präsident quasi rausgeworfen – den Deal nimmt er nicht an. Vor allem bei den anderen Verbündeten Europas ist die Empörung über den Auftritt Trumps und seine Haltung zum Ukraine-Krieg groß.

Parallel dazu nimmt Trump wieder diplomatische Beziehungen zu Russland auf, telefoniert mit Putin und will sich auch persönlich mit ihm treffen – alles Dinge, die in den letzten Jahren für viele undenkbar geworden waren. Und auch Selenskyj will weiter mit Trump verhandeln und will den Deal letzten Endes doch annehmen. Kurz darauf stellen die USA trotzdem sämtliche Militär- und Geheimdiensthilfe für die Ukraine ein.

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Der Anfang vom Ende der NATO?

Gerade im Vergleich zur Biden-Administration scheint der US-Imperialismus gewaltig umgeschwenkt zu haben: weg vom transatlantischen Bündnis mit der EU, hin zu einer weniger kompromissbereiten Durchsetzung der eigenen Interessen. Einige Militärexperten und Politiker:innen sprechen bereits vom Ende der NATO.

Denn jetzt, wo die ganze Welt miterlebt, wie schnell die USA einen Bündnispartner fallen lassen, scheint eines der Kernelemente der NATO – die gegenseitige militärische Absicherung im Angriffsfall – auf wackligen Füßen zu stehen. Im „Bündnisfall“, der nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrags eintritt, wenn ein Mitgliedsstaat auf NATO-Gebiet von einem anderen Staat militärisch angegriffen wird, sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, den Angegriffenen beizustehen – in dem Maße, in dem es jede Nation für sich für angemessen hält.

Von einer Unmutsbekundung über eine Panzerdivision bis hin zum Einsatz von Flugzeugträgern und Apache-Kampfhubschraubern kann diese Unterstützung der anderen NATO-Staaten im Bündnisfall jedoch alles Mögliche bedeuten: Bis jetzt waren sich die allermeisten sicher, dass die USA als mächtigste Militärmacht der Welt und Schirmherrin der NATO mit Sicherheit zu allen erdenklichen Mitteln greifen würden, um ihre Verbündeten in Europa zu verteidigen.

Jetzt, da der neue Kurs der USA gezeigt hat, dass es auch anders geht, ist die NATO-Idee eigentlich schon gestorben. Das bedeutet nicht, dass sie morgen oder übermorgen aufgelöst wird oder die USA unverzüglich all ihre Truppen aus Europa abziehen und ihre Militärbasen aufgeben werden. Aber allein die Tatsache, dass es Zweifel daran gibt, ob die USA im NATO-Bündnisfall umfassend reagieren würden, hat das Schicksal der NATO bereits vorgezeichnet.

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Die Aufrüstung in Europa

Denn natürlich will sich nun keiner der europäischen NATO-Staaten noch länger auf die USA verlassen müssen als nötig. So lässt sich in Teilen auch die Ankündigung massiver verschiedener nationaler und europaweiter Aufrüstungsprogramme erklären: Wenn man sich militärisch nicht mehr auf die USA verlassen kann, muss man eben wieder unabhängiger werden und auf eigenen Beinen stehen. Und das kostet vor allem Milliarden und Abermilliarden von Euro, die jetzt in ganz Europa flüssig gemacht werden sollen.

In diesem Sinne traf sich am Donnerstag der Europäische Rat, um über die Zukunft der „Sicherheit Europas“ zu beraten. Beschlossen wurde, dass Europa in den kommenden Jahren militärisch autonomer werden soll. Dafür sollen eigene Sicherheitskonzepte –auch mit Nicht-NATO-Mitgliedern – erarbeitet, der jeweilige Grenzschutz verstärkt und alles in allem auf jeder Ebene stärker aufgerüstet werden.

Ein schlafender Riese erwacht…

Allen voran geht dabei Deutschland, das in der US-amerikanischen Nachrichtenagentur Bloomberg als „schlafender Riese“ bezeichnet wurde. Und tatsächlich: Der schlafende Riese des deutschen Militarismus ist erwacht – nicht erst seit der vergangenen Woche, sondern spätestens, seit Olaf Scholz vor nunmehr drei Jahren im Deutschen Bundestag die sogenannte „Zeitenwende” ausrief.

Nur wird mittlerweile nicht mehr über ein 100 Milliarden schweres, sondern ein – zumindest theoretisch – unbegrenztes Sondervermögen für die Hochrüstung und den Aufbau der Bundeswehr diskutiert. Ein Sondervermögen, für das ähnlich wie vor drei Jahren erneut das Grundgesetz geändert werden müsste. Bereits am 17. März soll über diese massive Finanzspritze abgestimmt werden.

„Whatever it takes“ – Stoppen wir die Aufrüstung!

Von dieser Finanzspritze  würden nicht nur die Bundeswehr, sondern natürlich auch die deutschen Rüstungs- und Industriemonopole profitieren. Der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie e.V. (BDSV), Dr. Hans Christoph Atzpodien, spricht schon jetzt von einem „Befreiungsschlag“.

Parallel dazu bringt der Ex-BND-Chef August Hanning die Idee von eigenen deutschen Atomwaffen ins Spiel, der wahrscheinlich bald neue Kanzler Friedrich Merz (CDU) will noch in diesem Jahr die Wehrpflicht wiedereinführen und die Europäische Zentralbank (EZB) senkt den Leitzins, was den Geldfluss für die europäischen Aufrüstungsprogramme ebenfalls verspricht, geschmeidiger zu machen.

„Die Dividenden steigen, und die Proletarier fallen.“

Was sich in diesen Tagen und Wochen beobachten lässt, ist nichts weniger als eine rasante Beschleunigung, mit der sich die Imperialisten auf den Kampf um die Neuaufteilung der Welt vorbereiten. Und auch wenn ein großer Krieg noch nicht unmittelbar bevor steht, wird er doch immer wahrscheinlicher. Und alle, der US-Imperialismus, der deutsche Militarismus, die russischen, chinesischen, französischen, englischen oder japanischen Imperialisten – sie alle bringen sich in Stellung, um in diesem Kampf um die neue hegemoniale Weltordnung möglichst viel für sich selbst zu gewinnen.

Es wäre ein Krieg, in dessen ersten Geplänkeln – sei es jetzt in der Ukraine, in Westasien oder sonst wo – schon heute hunderttausende Arbeiter:innen abgeschlachtet werden. Denn genau das bedeutet imperialistischer Krieg: Es sind die Arbeiter:innen Deutschlands, Russlands, Chinas oder Frankreichs, die einander massenhaft ermorden, ganze Generationen, die ins Grab taumeln sollen, während die Politiker:innen, Bonzen und Militärs zusammen bei einem Glas Champagner die steigenden Dividenden feiern.

Alex Lehmann
Alex Lehmann
Perspektive Autor seit 2023. Jugendlicher Arbeiter im Einzelhandel aus Norddeutschland, schreibt gerne Artikel um den deutschen Imperialismus und seine Lügen zu enttarnen. Motto: "Wir sind die Jugend des Hochverrats!"

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