Die Anti-Hamas-Proteste letzte Woche in Gaza sind Ausdruck der weit verbreiteten palästinensischen Verzweiflung angesichts des israelischen Völkermords. Die Akteure, die hinter den Protesten stehen, könnten auch darauf hindeuten, dass nun externe Kräfte versuchen, den Schmerz im Gazastreifen für ihre politischen Zwecke auszunutzen. – Ein Kommentar von Ali Najjar.
In der vergangenen Woche gingen Palästinenser:innen in verschiedenen Teilen des Gazastreifens auf die Straße und forderten zum Teil die Hamas auf, die Macht abzugeben und den Krieg zu beenden. Einige der Demonstrant:innen in Orten wie al-Shuja’iyya in Gaza-Stadt forderten z.B. die Hamas auf, zurückzutreten und die Verhandlungen über einen Waffenstillstand der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) und anderen arabischen Staaten zu überlassen.
Zu den Protesten hatten Familien- und Clanführer im Gazastreifen aufgerufen. In einer Erklärung der Familienführer im Stadtteil Shuja’iyya hieß es: „Nehmt an einem Volksmarsch der Wut teil, um den andauernden Krieg abzulehnen und zu fordern, dass die Hamas ihre Hände aus dem Gazastreifen nimmt, damit das Leben zu den Menschen zurückkehren kann und unser andauerndes Leiden ein Ende hat“.
Frustration der Bevölkerung inmitten eines Genozids
Im Gazastreifen herrschen Wut und Unzufriedenheit über die harte Realität, welche die Menschen seit Beginn des Völkermords durchleben. Viele Faktoren seit Beginn des Kriegs haben Teile der Bevölkerung dazu veranlasst, der Hamas die Schuld dafür zu geben, dass sie während des Krieges keine angemessenen Bedingungen zum Schutz der Zivilbevölkerung geschaffen und die massive Zerstörung des Gazastreifens verursacht habe.
Viele Protestierende sind der Auffassung, dass es an der Zeit ist, dass das Volk sein Wort ergreift und der Völkermord aufhört, egal welchen Preis die Hamas zahlen muss, um einen Waffenstillstand zu akzeptieren. Sie glauben, dass das Blut der Menschen, das die israelische Armee täglich in Gaza vergießt, wertvoller ist als jede noch so günstige Verhandlungsposition.
Die Herrschaft und das Vorgehen der Hamas abzulehnen, muss jedoch nicht bedeuten, dass grundsätzlich jeder Widerstand abgelehnt wird. Viele erleben die aktuelle Phase als eine besonders bedrohliche. Während der Genozid weiter geht und Menschen ihre Heimat verlieren, entsteht der Eindruck, dass die Hamas sich nicht um das Leben der Opfer kümmert.
Proteste keine Neuheit
Proteste gegen die Hamas als de-facto-Regierung des Gazastreifens waren vor dem 7. Oktober 2023 keine Seltenheit. Das Vorgehen gegen sie war immer wieder auch von repressiven Mitteln geprägt. Allerdings muss dem Bild, das oft in westlichen Medien in Bezugnahme auf die israelische Kriegspropaganda gezeichnet wird, widersprochen werden demnach handele es sich bei der Organisation um eine fanatische und isolierte Untergrund-Miliz mit einer zivilen Fassade, welche die eigene Bevölkerung in Geiselhaft halte.
Die Entstehungsgeschichte der Hamas zeigt eher ein umgekehrtes Bild: Die Gruppe ist hervorgegangen aus religiösen und karitativen Stiftungen, die lange vor der ersten Intifada, der Geburtsstunde von Hamas, im Gazastreifen verankert waren. Tatsächlich haben sich diese religiös-konservativen Strukturen innerhalb der Gesamtgeschichte des palästinensischen Widerstands erst relativ spät am bewaffneten Kampf beteiligt.
Einfluss der Fatah?
Bei einigen der Proteste ist dazu ein offensichtlicher Einfluss der Fatah zu erkennen, welche die palästinensische Scheinregierung (Autonomiebehörde) aus Kollaborateuren stellt. Israelische Medien wollen Demonstrant:innen aus dem Umfeld einer Fatah-Fraktion identifiziert haben, die von Muhammad Dahlan angeführt wird. Dahlan ist ein ehemaliger Führer der Fatah in Gaza, der sich inzwischen von der Hauptströmung der Fatah-Bewegung unter Mahmoud Abbas abgespalten hat und jetzt in den Vereinigten Arabischen Emiraten lebt.
Wahrscheinlich sieht sich die Hamas aktuell nicht imstande, die Proteste einfach zu unterdrücken, wie es manchmal in der Vergangenheit geschah, sondern greift mit ihren zivilen Strukturen und diplomatischen Mitteln ein, um sie zu lenken und zu integrieren. Sie hat dabei auch Unterstützung von anderen Fraktionen des Widerstands. Es wird ihnen insgesamt darum gehen, den Fokus auf die israelische Besatzung und Armee als Hauptfeind zu lenken, aber auch ihre Rivalen von der Fatah möglichst herauszudrängen.
Insgesamt lässt sich sagen: Wie in jeder Gesellschaft gibt es auch im Gazastreifen unterschiedliche politische Auffassungen, einschließlich der Opposition gegen die Hamas. Die Haupttrennlinie zwischen den palästinensischen politischen Fraktionen verläuft hierbei nicht entlang der Spaltung zwischen Säkularismus und Fundamentalismus, den Kampf um unterschiedliche sozioökonomische Agenden oder die Vorzüge einer bestimmten Taktik im Dienste der Befreiung. All dies sind für sich genommen wichtige Themen, aber was die palästinensische politische Arena tatsächlich spaltet, ist die Kluft zwischen einer Politik und Praxis des Widerstands einerseits und einer Politik der Kapitulation und der Kollaboration.
Letzterer Ansatz ist durch ebenjene Fatah-Eliten vertreten, welche die Autonomiebehörde bilden. Die Besatzungsmacht wiederum wird immer versuchen, diese Stimmen auszunutzen, um die irreführende Behauptung aufzustellen, die Bevölkerung des Gazastreifens habe sich grundsätzlich gegen den Widerstand gewandt.
„Dies ist erst der Anfang“ – über 400 Tote in Gaza nach israelischen Angriffen
Ein durchmischtes Bild
Zu den Persönlichkeiten und Kollektiven aus verschieden Städten des Gazastreifens, die zu den Protesten aufriefen, bekräftigten einige auch ihre Unterstützung für den Widerstand und wiesen Versuche zurück, die Proteste zu vereinnahmen. Das formulierte politische Ziel der Proteste war es auch, auf das Leid in Gaza aufmerksam zu machen und internationalen Druck einzufordern, um Israels Genozid endlich zu beenden. Durch die Präsenz solcher Stimmen wird klar, dass die Proteste umkämpft waren, und dass die Fraktionen des nationalen Widerstands – die aktuell von der Hamas dominiert werden – sie in ihrem Sinne zu lenken versuchten und auf sie einwirkten.
Einige Hamas-Mitglieder selbst haben ebenfalls eine gewisse Unterstützung für die Proteste geäußert. Es gibt innerhalb der Organisation die Meinung, dass es nicht verkehrt sei, sich zurückzuziehen, wenn eine bestimmte Strategie nicht aufzugehen scheint.
Einige Demonstrant:innen positionieren sich nicht grundsätzlich gegen die Hamas, sondern gegen ihre Herrschaft. Tatsächlich hat die Hamas bereits zugestimmt, die Macht an eine technokratische PA-Regierung oder einen Verwaltungsausschuss abzutreten. Israel hat beide Optionen jedoch ausgeschlossen.
Zuvor hatte die Hamas während des Waffenstillstands erklärt, sie wolle den Gazastreifen nicht weiter regieren. Laut dem ranghohen Hamas-Führer Ismail Radwan war die Hamas bereit, jeden „nationalen Konsens“ darüber zu akzeptieren, wer den Gazastreifen nach dem Krieg verwalten solle.
Das wahre Ausmaß, inwieweit die Besatzung und ihre Handlanger auf die Proteste einwirkten, kann schwer aus der Ferne beurteilt werden. Allerdings hat die israelische Kriegspropaganda das Thema sofort aufgegriffen und wird darauf gehofft haben, dass die soziale Basis des Widerstandes durch eine Spaltung geschwächt wird. Währenddessen eskaliert die genozidale Gewalt der israelischen Seite ungehindert weiter.