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„Das Natürliche ist eine normale Geburt“ – Türkei will Kaiserschnitte in privaten Kliniken verbieten

In der Türkei wurde ein teilweises Verbot von Kaiserschnittgeburten eingeführt. Mit dem Verbot von Kaiserschnitten in privaten medizinischen Zentren will der türkische Staat dem Rückgang der Geburtenrate entgegenwirken. Auch Mediziner:innen warnen vor einer baldigen Schwangerschaft nach dem Eingriff. Das Verbot wird verbunden mit einer Werbekampagne für „natürliche“ Geburten.

In der Türkei ist eine neue Regelung des Gesundheitsministeriums in Kraft getreten, die geplante Kaiserschnitte ohne medizinische Notwendigkeit in privaten Krankenhäusern untersagt. Die Maßnahme wurde in einem Amtsblatt am 19. April veröffentlicht und ist mit sofortiger Wirkung in Kraft getreten.

Laut der neuen Vorschrift dürfen Kaiserschnittgeburten in privaten medizinischen Einrichtungen künftig nur dann durchgeführt werden, wenn eine medizinische Indikation – wie etwa Risiken für Mutter oder Kind – ärztlich festgestellt wird. Wunschkaiserschnitte, also Eingriffe auf alleinigen Wunsch der Mutter ohne gesundheitliche Begründung, sind demnach nicht mehr erlaubt. Zudem wurde verfügt, dass alle geburtshilflichen Eingriffe detailliert im elektronischen System erfasst und an ein zentrales Melderegister übermittelt werden müssen. Rüsten Gesundheitszentren nach und richten bis Ende des Jahres eine Geburtenstation ein, dann dürfen diese im Rahmen des Gesetzes weiterhin auch Wunschkaiserschnitte durchführen.

Frauenrechtler:innen in der Türkei kritisieren das Gesetz scharf: „In vielen Landkreisen und Dörfern sind medizinische Zentren der einzige Zugang zu grundlegender Gesundheitsversorgung. Wenn dort keine geplanten Kaiserschnitte mehr möglich sind, ist das ein massiver Rückschritt für die Sicherheit werdender Mütter.“, warnt Aylin Nazlıaka, stellvertretende Parteivorsitzende der Oppositionspartei CHP. Die Entscheidung gefährde nicht nur Freiheiten, sondern auch Leben.

Viele Frauenrechtler:innen fürchten außerdem eine Ausweitung des Verbots auf Kaiserschnitte im Allgemeinen und sehen dies als tiefgreifenden Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht von Frauen und Gebärenden.

Warum das Verbot von Kaiserschnitten?

Die Geburtenraten in der Türkei sind in den letzten Jahrzehnten stark gesunken: In den letzten 60 Jahren fiel sie von rund sechs auf zwei Kinder pro Familie. Das stellt die Wirtschaft in der Türkei vor das strukturelle Problem der Überalterung. Dem will die faschistische türkische Regierung nun entgegenwirken.

Kurz vor dem Jahreswechsel unterzeichnete Präsident Erdoğan deshalb ein Dekret zum sogenannten „Status der Familie“ und legte damit den Grundstein für die Kampagne „Jahr der Familie“. Die Frauenrechtlerin und Anwältin Selin Nakipoğlu kritisiert, dass damit Elemente des islamisch geprägten Scharia-Rechts in das Familienrecht Einzug halten könnten. Die Kampagne soll insgesamt ein extrem rückschrittliches, konservatives Frauen- und Familienbild in der Türkei stärken und unter anderem den gefallenen Geburtenraten mit einer Mischung aus Propaganda- und Zwangsmaßnahmen entgegenwirken.

Türkei: „Jahr der Familie“ als Angriff auf Rechte von LGBTI+

In diesen Kontext ist auch das teilweise Verbot von Kaiserschnitten einzuordnen. Denn die Kaiserschnittraten sind in der Türkei in den letzten Jahren stark angestiegen, in einigen Regionen auf bis zu 60 Prozent. Die Weltgesundheitsorganisation hält nur etwa 10-15 Prozent davon für medizinisch notwendig. Mediziner:innen raten deshalb in der Regel von einer baldigen Schwangerschaft nach einem Kaiserschnitt ab. Das teilweise Verbot von Kaiserschnitten soll also Frauen dazu drängen, wieder in kürzeren Abständen und damit insgesamt mehr Kinder zu bekommen.

Diese Forderung ist nicht neu, Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan ließ bereits mehrfach verlauten, was er darunter versteht: Im Jahr 2008 richtet er sich an alle türkischen Frauen: „Bringt mindestens drei Kinder auf die Welt.“

Neben dem Verbot treibt die Regierung zuletzt auch eine Werbekampagne für vaginale Geburten voran, die sie als „natürliche“ Geburten bezeichnet. Fußballer des Vereins „Sivasspor” liefen beispielsweise mit einem Transparent des Gesundheitsministeriums im Stadion ein. Darauf stand das Motto: „Das Natürliche ist eine normale Geburt“.

„Mein Körper, meine Entscheidung“ – Proteste für das Selbstbestimmungsrecht

Seit dem Erlass der neuen Regelung regt sich in der Türkei Widerstand. Er schließt damit recht unmittelbar an die riesige Welle von Protesten an, die sich nach der Verhaftung des Oppositionsführers Ekrem İmamoğlu entwickelte.

Türkei: İmamoğlu in U-Haft – Proteste halten an

Auf Demonstrationen in Istanbul waren unter anderem Parolen wie: „Mein Körper, meine Entscheidung“ zu hören. Eine Rednerin berichtete von den unterschiedlichen Problemen, die sich nun ihr und anderen stellen. Frauen müssten in Krankenhäusern viel zu lange auf Termine beim gynäkologischen Fachärzt:innen warten, sie hätten außerdem keinen Zugang zu Impfungen gegen Gebärmutterhalskrebs. Der türkische Staat kümmere sich nicht um diese Notwendigkeiten, aber er wolle Frauen vorschreiben, wie sie zu gebären haben.

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