Die Lage für die Ukraine hat sich mit dem Amtsantritt der neuen US-Regierung zugespitzt. Diese will einen Waffenstillstand auch gegen den Willen Kiews durchsetzen um wieder ungehindert Geschäfte mit Russland machen zu können. Die Entfernung der USA von den europäischen Ländern droht daneben die Widersprüche zwischen Deutschland, England und Frankreich neu anzufachen. – Ein Überblick über die neue geostrategische Lage von Ahmad Al-Balah.
„You don´t have the cards right now“ – diese Worte des US-Präsidenten Donald Trumps gegenüber dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj gingen um die Welt. Tatsächlich hat die Ukraine derzeit kaum Handlungsoptionen. Das Land ist abhängig von der Unterstützung aus den USA, aber auch aus Europa.
Die Abhängigkeiten sind klar: Wie das Kieler Institut für Weltwirtschaft feststellt, hat Europa (die EU plus Großbritannien, Norwegen, Island und Schweiz) der Ukraine in den drei Kriegsjahren insgesamt 132 Milliarden Euro bereitgestellt. Demgegenüber stehen umgerechnet 114 Milliarden Euro an Kriegshilfen allein aus den USA . Die USA waren über den gesamten Kriegszeitraum der wichtigste Einzelunterstützerstaat für die Ukraine. Daher verwundert es auch nicht, dass sie es sind, die sich nun das Recht herausnehmen, allein mit Putin über die Zukunft der Ukraine zu verhandeln.
Russland wird aller Voraussicht nach sein Kriegsziel erreichen und die Ostukraine unter seine Kontrolle bringen sowie die Krim behalten. Auch die Integration der Ukraine in den westlichen Block (falls es einen solchen überhaupt noch gibt) wurde verhindert.
Nachdem die Amerikaner ursprünglich 350 Milliarden Dollar von der Ukraine als Gegenleistung gefordert hatten, einigten sie sich nun auf eine undurchsichtige Vereinbarung über einen gemeinsamen staatlichen Fonds zur Erschließung ukrainischer Bodenschätze. Dabei ist unklar, ob Amerika im Gegenzug Sicherheitsgarantien anbieten wird.
Die großen europäischen Staaten hätten einen ähnlichen Schachzug ihrerseits nicht ohne Weiteres unternehmen können. Einerseits, weil sie untereinander konkurrierende Interessen haben. Andererseits, weil sie (allen voran Deutschland) in eigener Abhängigkeit zu den USA und deren Verteidigungsgarantie stehen – oder standen. Die Bündnistreue gegenüber den NATO-Partnern scheint Donald Trump aber gerade mitsamt dem Konzept der liberalen Demokratie über Bord zu werfen.
Die neue Weltordnung
Die kapitalfreundliche britische Zeitung The Economist warnt vor dem Zerfall der transatlantischen Nachkriegsordnung mit den USA an der Spitze. Die USA gehen unter Trump radikale Schritte, die sie zuvor nur vorsichtig diskutiert hatten.
Dass sich die USA auf den Pazifik und das Duell mit China fokussieren, ist schon seit Jahren das leitende Motiv der US-Geostrategie. Das Ende der Ära der USA als „Weltpolizist“ wurde ebenfalls bereits unter Obama eingeleitet. Dass es für die USA nebenbei gilt, auch die Konkurrenten der zweiten Riege (wie Russland und Deutschland) in Schach zu halten, ist ebenfalls bekannt.
Was neu ist, ist die offen radikale Außenpolitik der USA, die keinerlei Anstalten mehr macht, sich auf liberal-demokratische Werte zu berufen wie in den letzten 80 Jahren. Diese hatte der US-Imperialismus ohnehin nur als Feigenblatt verwendet, um vorteilhafte Bündnis- und Geschäftsbeziehungen aufzubauen und sich abtrünnige Länder zu unterwerfen. Jetzt werfen die USA die bisherigen Bündnisbeziehungen auf der Welt über den Haufen, schmieden ohne Feigenblätter auf eigene Faust neue Allianzen und setzen dabei konsequent auf das Recht des Stärkeren. Damit schalten die USA in gewisser Weise als erste liberale Demokratie in eine Art Vorkriegsmodus.
Nur nicht zu spät kommen – Deutschland will der Nächste sein
Das Loslösen vom veralteten Korsett der transatlantischen und vermeintlich „werteorientierten“ Geostrategie ermöglicht neue Wege. So schließen die USA ohne Umschweife Geschäfte mit Russland, Saudi-Arabien, Israel, taiwanesischen Führungskräften und der Ukraine über „Ölförderung, Bauverträge, Sanktionen, Intel-Fabriken, die Nutzung von Elon Musks Satellitendienst Starlink und ein Golfturnier in der Wüste“, wie der Economist schreibt.
Inwiefern diese auf kurzfristigen Eigennutz ausgerichtete Strategie auf längere Sicht aufgehen wird, erscheint fraglich. Ehemalige Bündnispartner der USA wie Kanada, Mexiko, Südkorea und die EU suchen derweil eigene Wege, um ihre Macht und ihren Wohlstand zu beschützen bzw. wenn möglich auszubauen.
Alle gegen alle
Die europäischen Staaten sind plötzlich auf sich selbst gestellt. Doch Deutschland und Europa (die EU plus Großbritannien) stehen anders als der Ukraine noch Handlungsoptionen offen. Das zeigte sich zum einen in der geschlossenen Reaktion der EU auf die US-Zölle, zum anderen in der europäischen Antwort auf den Rückzieher der USA aus dessen ehemaligem Sicherheitsversprechen für Europa.
Die Trumpsche Verschärfung der US-Außenpolitik zieht nun also eine Kettenreaktion nach sich. Die EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen stellte in ihrem „ReArm Europe“-Plan 800 Milliarden Euro für ein umfassendes Verteidigungspaket in Aussicht. Außerdem werden Töpfe umgewidmet: Von regionaler Entwicklung hin zu Straßensanierung für das militärlogistische „Drehkreuz Deutschland“.
Diejenigen in Politik und Wirtschaft, die über Deutschlands Kurs entscheiden, nehmen nun nochmal eine deutliche Tempoverschärfung vor. Die „Zeitenwende“ hat sich konkretisiert zu „Whatever it takes“: Ein Aussetzen der Schuldenbremse für die unbegrenzte Militarisierung Deutschlands plus 500 Milliarden-Sondervermögen für die Instandsetzung der Infrastruktur.
Verschiedene Szenarien
Doch klar ist auch: Das Auseinanderdriften zwischen den USA und den europäischen Mächten stellt das fragile Bündnisgeflecht Deutschlands infrage. Die innereuropäische Konkurrenz ist deutlich sichtbar. Deutschland zieht beim Vorstoß zur europäischen Strategie für die Ukraine, der „Koalition der Willigen“, kaum mit. Man möchte sich nicht festlegen. Zu wenig Truppen stehen bereit, um ohne die USA in die Ukraine zu ziehen, heißt es aus Berlin.
Einigen Akteur:innen in Europa ist klar, dass sie in einer Welt, in der sie nicht auf die Unterstützung der USA zählen können, zusammenarbeiten müssen, um zu bestehen. Die Aufrüstung der EU bis hin zu einer eigenen europäischen Armee wäre eine Antwort. Frankreich strebt dies an, aber mit dem Ziel, diese unter die eigene Hegemonie zu stellen. Das hieße allerdings für Deutschland, die Entscheidungsgewalt über die Bundeswehr und damit auch die eigenständige Geostrategie zu großen Teilen abzutreten – was realistischerweise nicht eintreten wird.
Unleugbar steht bereits konkret die Rolle der NATO beziehungsweise die NATO selbst in Frage. Wenn der neue Generalsekretär Mark Rutte im Oval Office beispielsweise nicht einschreitet, wenn Donald Trump neben ihm offen über die Annexion Grönlands oder Kanadas spricht, wird das „Sicherheitsbündnis“ zur Farce. Damit sinkt auch die Abschreckungsgefahr nach außen.
Gleichzeitig sind für Deutschland zurzeit keine anderen Bündnispartner in Sicht. Russland ist noch immer der erklärte Feind, gegen den man bis 2029 kriegsfähig sein will. Gegen China wurde den USA folgend jahrelang eine feindliche Stimmung aufgebaut. Doch noch hat Deutschland keinen Druck, sich entscheiden zu müssen. Die Priorität besteht aktuell im Aufbau eigener militärischer Kapazitäten. Damit wird der Boden bereitet für nächste Schritte. In welche Richtung diese gehen werden, das werden die Damen und Herren der Bundeswehr und der deutschen Monopole entscheiden, wenn die Armee kriegstüchtig ist.
Den Kriegsvorbereitungen jetzt etwas entgegensetzen!
Aus unserem Land, unseren Ressourcen und unserer Arbeit dieses Kriegsprojekt zu finanzieren, dürfen wir den Kriegstreiber:innen nicht durchgehen lassen. Dabei geht es um Politiker:innen, die nach der Wahl ihre Versprechen ändern wie die CDU die Schuldenbremse. Oder die neue Regierungskoalition aus SPD und Union, die parlamentarische Mehrheiten von vor vier Jahren in Form der Grünen benutzen, um möglichst unkompliziert eine Verfassungsänderung durchzuführen.
Als einfache Arbeiter:innen in Deutschland haben wir dadurch nichts zu gewinnen. Unser Leben wird bereits jetzt von Tag zu Tag schlechter. Auch ehemals Bessergestellten des sogenannten Mittelstands oder Intellektuellen muss dieser Kriegskurs übel aufschlagen. Wenn man der Analyse folgt, dann muss jetzt die Zeit sein für antimilitaristischen Widerstand.
Den Kriegstreiber:innen darf keine freie Minute gegeben werden, denn dann schreitet ihre Kriegsvorbereitung ungehindert voran und zieht sogar noch die Mehrheit der Gesellschaft mit sich.
Die antimilitaristische Bewegung beginnt sich nach jahrzehntelangem Stillstand und Rückgang wieder zu formieren. Ein Begrenzen auf die pazifistischen Ostermärsche kann nicht reichen. Mit Ausbruch des Ukraine-Kriegs sahen wir zunächst starken Protest in Solidarität mit der Ukraine und natürlich abstrakt für den Frieden. Doch wenn wir heute sehen, wie der deutsche Staat unter dem Vorwand, der Ukraine Frieden zu bringen oder uns gegen Russland zu verteidigen, aufrüstet, dann dürfen wir auch dort nicht stehenbleiben bzw. mitmarschieren.
Spätestens mit dem Aussetzen der Schuldenbremse für Verteidigungsausgaben ist auch Deutschland zu direkten Kriegsvorbereitungen übergegangen. Wir müssen sie davon abhalten! Bislang ist es beispielsweise das Wissen der Herrschenden über die strikte Ablehnung der deutschen Bevölkerung gegenüber einer Wehrpflicht, das sie davon abhält, diese durchzusetzen. Sorgen wir dafür, dass zur Verweigerung der Wehrpflicht auch eine Ablehnung des Kriegskurses, der Kriegsrhetorik und der Kriegsindustrie hinzukommt!
Atommacht zu „Friedenszwecken“?
Parallel zur Tempoverschärfung im Aufbau der eigenen militärischen Kapazitäten drängt sich eine Frage auf, die wie keine andere über allem anderen zu stehen scheint. Was ist die Bedeutung von Atomwaffen heute und warum wird auch Deutschland früher oder später auf ihren Besitz drängen?
„Gleichgewicht des Schreckens“, so wird der Effekt atomarer Abschreckung bezeichnet. Konkret bedeutet das: Keine Atommacht würde eine andere direkt angreifen. Begründet wird dies mit der atomaren Zweitschlagfähigkeit, also der Fähigkeit eines Staates, nach einem gegnerischen Atomangriff mit einem eigenen Nuklearangriff zu reagieren. Ein Atombombenangriff bietet in diesem Patt keine Garantie für einen Sieg.
Fast jede Großmacht der Welt besitzt daher Atomwaffen: Russland 5.580, die USA 5.044, China 500, Frankreich 290, Großbritannien 225, Indien 172, Pakistan 170, Israel 90 und Nordkorea 50 (Statistisches Bundesamt, 2024). Deutschland stand dabei bislang unter dem Nuklearschirm der USA, die Atomwaffen im rheinland-pfälzischen Büchel stationiert haben. Doch diese Sicherheit neigt sich dem Ende. Höchste Zeit also für die Kriegstreiber:innen hierzulande, die Debatte über die nukleare Bewaffnung voran zu treiben.
Die Regeln der Welt: Deutschland muss am Atomspiel teilnehmen
Bereits vor acht Jahren hielt Rainer Moormann, ehemaliger Mitarbeiter des Jülich Research Centers, einen Vortrag zu diesem Thema: Die erforderliche Menge für eigene Atomsprengköpfe ließe sich „in drei bis fünf Jahren“ herstellen. Diese könnte man z. B. mit Taurus-Marschflugkörpern verschießen.
Laut Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) dreht sich die Debatte jedoch lediglich um „nukleare Teilhabe“, erklärte er gegenüber dem Deutschlandfunk. Die Kapazitäten Frankreichs und Großbritanniens würden als „Ergänzung“ zu dem atomaren US-Schutzschirm vorerst genügen.
Doch das ist nur der technische Aspekt. Als Unterzeichner des Nichtverbreitungsvertrags (NVV) ist Deutschland völkerrechtlich gebunden, keine Atomwaffen zu entwickeln. Dies wird unter anderem dem Iran vorgehalten. Problem eins ist also: Sollte Berlin zur Bombe greifen, könnten andere Mächte nachziehen. Auch Polen und Finnland haben bereits Interesse angekündigt.
Das zweite Problem drängt sich noch unmittelbarer auf: Deutschland hat sich im 2+4-Vertrag von 1990 verpflichtet, auf Atomwaffen zu verzichten. Ein deutsches Atomprogramm würden sich die Vertragspartner nicht ohne Weiteres gefallen lassen. Großbritannien und Frankreich werden Deutschland mit allen Mitteln drängen, sich dem europäischen Schirm unterzuordnen. Russland sähe das als nächsten Schritt zur Kriegsvorbereitung und könnte versuchen, das Programm rechtzeitig zu unterbinden. Und wenn sich die US-Regierung den deutschen Atomplänen widersetzt, könnten Personen und Firmen, die am Projekt beteiligt sind, mit empfindlichen Sanktionen rechnen. Der Iran lässt grüßen. Auch ein „Deal“ mit Präsident Trump würde Deutschland teuer zu stehen kommen.
Der atomare Frieden bröckelt
Hinzukommt: Die Logik der gegenseitigen Abschreckung wurde in der relativ übersichtlichen weltpolitischen Lage während des Kalten Krieges, mit zwei verfeindeten Blöcken, entwickelt.
Je mehr Länder sich aber atomar bewaffnen, desto mehr steht diese Logik infrage. Zudem lässt sich einwenden, dass eine Atommacht eine andere dennoch konventionell angreifen könnte. Dies stellt eine angegriffene Atommacht noch immer vor die Frage, ob es militärisch sinnvoll ist, die Atomwaffe gegen den Angreifer einzusetzen.
Auch mit taktischen Atomwaffen ist diese Frage ungelöst. Taktische Atombomben sind präzisere Nuklearwaffen, die für den Einsatz auf dem Schlachtfeld konzipiert sind, um spezifische militärische Ziele zu treffen, anstatt großflächige Zerstörung anzurichten. Sie könnten zum Einsatz kommen, um in einem begrenzten Konflikt strategische Vorteile zu erzielen. Ihre Abschreckungswirkung ist größer, da ihr Einsatz wahrscheinlicher ist.
Können uns Atomwaffen also Frieden gewährleisten? Die antwortet lautet natürlich: Nein. Keine Waffe kann den Frieden bringen und eine Welt, die darauf basiert, kann keine gerechte sein. Eine kapitalistische Welt, die auf Konkurrenz und Unterdrückung basiert, umso weniger. Eine gerechte Welt braucht keine Atomwaffen.
In der deutschen Debatte läuft so einiges gehörig falsch. Erst heißt es in Bezug auf die Ukraine: Frieden durch Krieg. Nun heißt es: Frieden durch Atombomben? Wer meint, das klingt plausibel, der oder die sollte sich die zweihunderttausend ermordeten Menschen in Hiroshima und Nagasaki vor fast 80 Jahren vor Augen führen.