Zeitung für Solidarität und Widerstand

Osteuropa: Spielfeld der Imperialisten

Rumänien, Georgien, Montenegro, Polen, Tschechien, Ukraine … im Osten Europas überkreuzen sich imperialistische Interessen. Hier kämpfen Weltmächte um Einflussgebiete und die besten Investitionsmöglichkeiten. Wer will was? – Eine Einordnung von Mohannad Lamees.

40 Brücken, 90 Tunnel – die zerklüftete Berglandschaft des kleinen Montenegros an der Adriaküste soll in Zukunft eine 140km lange Autobahn durchziehen. Sie soll quer durch das Land von der Hafenstadt Bar über die Hauptstadt Podgorica bis zur serbischen Grenze reichen. Momentan steht der Bau der montenegrinischen A1 jedoch still – ein chinesischer Staatskonzern hat bisher zwar die ersten rund 40km der Strecke gebaut, nun kann Montenegro jedoch die bei China aufgenommenen Schulden nicht zahlen. Die EU, von Montenegro um Hilfe gebeten, zögert jedoch, das Projekt zu übernehmen.

Der umkämpfte Autobahnbau zeigt im Kleinen, wie in Ost- und Südosteuropa derzeit die Interessen größerer imperialistischer Player über Kreuz liegen. Spätestens seit der Eskalation des Stellvertreterkriegs um die Ukraine mit der vollen Invasion Russlands vor drei Jahren ändern sich die Konstellationen im Osten Europas erneut. Einige Staaten haben sich bereits entweder eindeutig auf die Seite der westeuropäischen Imperialisten und der NATO oder auf Seiten Russlands gestellt, einige Staaten entwickeln sogar im Schatten der großen Imperialisten eine eigene regionale Politik. Andere Staaten schwanken weiterhin, welchem Lager sie sich zuwenden – je nachdem welche Abhängigkeit von welchem Lager ihnen für den Moment mehr wirtschaftliche und politische Perspektive verspricht.

Deutschland braucht Osteuropa

Mit den Osterweiterungen von NATO und EU schufen die westlichen Imperialisten in den letzten 20 Jahren eine Eingliederung zahlreicher Staaten, die vormals zum sogenannten Ostblock unter Führung der Sowjetunion gehört hatten. Vor allem für Deutschland hatte der Osten Europas in dieser Zeit neben der militärischen Bedeutung zur Eindämmung der russischen Großmachtbestrebungen eine wesentliche Rolle als „verlängerte Werkbank” des deutschen Kapitals.

Vor allem die sogenannten V4-Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn – so benannt nach der Stadt Visegrád am Donauknie – waren und sind auch heute der „industrielle Hinterhof” für deutsche Konzerne. Die Auto- und Zulieferindustrie, sowie die metallverabeitenden und Gummi- und Kunststoffindustrien in diesen Ländern stellen eine wesentliche Stütze für das deutsche Kapital dar, wenn es um die Verkürzung und Absicherung von Lieferketten geht. Gleichzeitig bleiben die Länder trotz Wirtschaftskrise in Deutschland stabil, Polen glänzt dabei besonders mit einem Wirtschaftswachstum, welches das in den westeuropäischen Ländern deutlich übertrifft.

Polen, Ungarn und Tschechien finden sich dementsprechend auch heute allesamt in den Top Five der Investitionsziele deutscher Kapitalist:innen. Michael Harms, Vertreter der deutschen Kapitalvereinigung Ost-Ausschuss der deutschen Wirtschaft formuliert in Bezug auf die deutschen Interessen eindeutig: „Die Region Mittel- und Osteuropa ist ein Chancenraum, in dem die guten Geschäftsmöglichkeiten die hier und da noch bestehenden Herausforderungen bei weitem überwiegen.”

Gleichzeitig entwickeln sich in den abhängigen Ländern ernsthafte Bestrebungen, aus der starken Führung durch Deutschland und die Europäische Union auszubrechen: Polen beispielsweise entwickelte sich in den letzten Jahren, gestützt auf massive Wirtschaftsförderung durch die Europäische Union, zu einem regionalen Player, der mit der Eskalation des Ukraine-Kriegs im Jahr 2022 eine umfassende Militarisierung auf den Weg brachte. Mittlerweile besitzt Polen mit über 200.000 Soldat:innen die größte stehende Armee in Europa noch vor Frankreich und unternimmt innerhalb der NATO mit Militärausgaben von rund 4 Prozent des Bruttoinlandprodukts verhältnismäßig die mit Abstand höchsten Rüstungsanstrengungen.

Über die militärische Stärke, für die in den polnischen Schulen nun bereits Kinder Schießübungen abhalten, bahnt sich Polen dabei den Weg in die erste Liga Europas und ist beispielsweise an der Entwicklung einer europäischen Strategie gegenüber Russland nach dem kommenden Frieden in der Ukraine beteiligt. Unter Donald Tusk positioniert sich das Land außerdem wieder eindeutig pro-europäisch, nachdem unter Duda zuvo – ähnlich wie heute noch in der Slowakei – der „ungarische” Weg mit Öffnung für russisches Kapital und „illiberaler Demokratie”, also einer autoritären und für faschistische Elemente offenen Regierungsweise, eingeschlagen worden war.

„Group of Five“ – Temporärer Frieden, temporäres Bündnis

Russland kämpft um Einfluss

Während es den westeuropäischen Staaten gelungen ist, die eigenen Einflussgebiete massiv nach Osten bis an die Grenzen Russlands auszudehnen, bahnt sich Russland seinerseits in den letzten Jahren offensiv den Weg zurück nach Europa. Der offene Krieg in der Ukraine ist dabei nur eines von mehreren Mitteln, mit denen sich der russische Imperialismus Einfluss in Europa zurück erkämpft.

In aller Munde ist die „hybride Kriegsführung” Russlands, mit welcher derzeit westeuropa- und NATO-freundliche Staaten gezielt destabilisiert werden. Russland bedient sich dabei letztlich ähnlicher Taktiken, wie es umgekehrt auch die NATO und die EU zuvor getan haben, um treue, den Interessen des eigenen Blocks und des eigenen Kapitals folgende Regierungen einzusetzen.

In Georgien verhalf Russland im Herbst 2024 sowohl der Regierung des Georgischen Traums an die Macht, die den vorher angestrebten EU-Beitritt des Landes außer Kraft setzte. Die pro-europäischen Massenproteste dort, an denen sich rund um die Wahl noch hunderttausende Menschen beteiligt hatten, sind mittlerweile durch die Repression der neuen Regierung eingedämmt und ziehen nur noch einige wenige auf die Straßen. Der Georgische Traum agiert bisher nicht offen russlandfreundlich, sondern arrangiert sich laut eigenen Darstellungen mit Russland, setzt so aber eine Politik um, die eindeutig den Interessen Russlands und dem „ungarischen Weg” entspricht.

Auch in Rumänien hatte im Herbst der offen faschistische Calin Georgescu die erste Runde der Präsidentschaftswahl gewonnen, nachdem Russland gezielt seine Positionen verbreitet und gefördert hatte. Das rumänische Verfassungsgericht erklärte den Wahlgang später jedoch aufgrund dieser Einmischung für ungültig. Ein extrem ungewöhnlicher Vorgang, bei dem die Geheimdienste des Landes eine entscheidende Rolle spielten. In Rumänien, das sich im Ukraine-Krieg eindeutig auf die Seite der NATO stellte und dessen Bevölkerung mit großer Mehrheit die West-Allianz gegenüber dem Bündnis mit Russland bevorzugt, wird derzeit der wichtigste Luftwaffenstützpunkt der NATO in Europa gebaut. Bereits im Jahr 2023 hatte Russland offenbar versucht, in dem Land eine andere Regierung an die Macht zu putschen und einen EU-Austritt zu erzwingen. Pro-russische Parteien hatten jüngst außerdem versucht, gesetzlich zu verhindern, dass aus Rumänien heraus russische Drohnen abgeschossen werden.

Bei der Anfang Mai kommenden Neuwahl in Rumänien könnte es wieder zu einem Sieg von faschistischen pro-russischen Kräften kommen. Derzeit liegt in den Umfragen George Simion, der sich als Nachfolger des gesperrten Georgescu sieht, vorn. Er fordert offen ein Ende der militärischen, logistischen und politischen Unterstützung der Ukraine durch Rumänien.

Die russischen Interessen gehen dabei weit über den Ukrainekrieg hinaus. Ohnehin deutet derzeit alles darauf hin, dass dieser Krieg mit einem Friedensschluss, der Russland dauerhaft den Zugang zum Schwarzen Meer sichert, enden wird. Für einen sich anbahnenden, größeren Krieg mit der NATO muss Russland aber bereits weiter vorausplanen und wird auch über den Ukrainekrieg hinaus seine Offensive auf Osteuropa fortsetzen. In Tschechien beispielsweise, also einem Land, in dem vor allem auch das deutsche Kapital aktiv ist, hat Russland es bereits geschafft, den eigenen Kapitalist:innen Investitionsmöglichkeiten zu schaffen und Abnehmer für das eigene Gas zu finden.

Neue Seidenstraße, neue Kräfteverhältnisse

Im Südosten Europas hat sich außerdem China als dritte größere Kraft etabliert und treibt dort massive Investitionen in den Aufbau einer Handelsinfrastruktur für den eigenen Export und Import voran. Die mit chinesischen Staatsgeldern finanzierte A1 in Montenegro ist nur ein Steinchen im Mosaik, mit dem sich China langfristig den Zugriff auf logistische Knotenpunkte in Südosteuropa sichern will. Während die montenegrische Autobahn dem mit chinesischem Kapital vollgepumpten Serbien (wo auch der eingestürzte Bahnhof von Novi Sad mit chinesischem Geld finanziert worden war) einen Schnellzugang zum Meer schaffen wird, baut China auch an der Errichtung einer Kette von unter dem eigenen Einfluss stehenden Häfen. Heute reicht diese Kette von Häfen in Haifa und Istanbul über den bereits gekauften Hafen in Piräus im Mittelmeer bis nach Gdynia an der polnischen Ostseeküste und Hamburg mit Zugang zur Nordsee.

Imperialismus: Zehn Jahre „Neue Seidenstraße“

Die Errichtung der „Neue Seidenstraße”, mit der China seine imperialistische Expansion in Süd- und Westasien, Afrika und Europa vorantreibt, schafft neue Abhängigkeiten: China zwingt durch große Kredite ärmere Länder in Schulden und lässt sich im Gegenzug den Zugriff auf größere logistische und militärische Knotenpunkte wie Häfen und Flughäfen verpfänden. Zwar schwächelt derzeit die politische 16+1-Initiative Chinas, bei der osteuropäische Staaten noch enger an China gebunden werden sollen. Trotzdem sind vor allem die europäischen Staaten, allen voran Deutschland, immer häufiger gezwungen, mit China um Einfluss in Osteuropa zu konkurrieren.

In Serbien und Montenegro zeigt sich schon heute deutlich, wie sich die abhängigen Länder, lange auf die Hilfe von Europa angewiesen, von den europäischen Imperialisten abwenden, wenn sich für sie kurzfristig bessere Möglichkeiten durch China bieten. In Serbien beispielsweise zeigte sich das besonders in den Diskussionen um ausbleibende oder zu geringe Unterstützungen durch die Europäer während der Corona-Krise und die weitere Hinwendung zu China und Russland.

In Osteuropa entscheiden sich Deutschlands und Russlands Zukunft

Vor allem für die EU und Deutschland sowie Russland spielt Osteuropa eine zentrale Rolle in den Vorbereitungen auf einen größeren Krieg. Doch nicht nur als zukünftiges Aufmarschgebiet und geostrategischer Schlüsselpunkt, sondern auch als Stütze der eigenen Wirtschaft hat Osteuropa nicht zuletzt für den deutschen Imperialismus eine herausragende Bedeutung.

Dass Deutschland sich nach dem russischen Angriff auf die Ukraine von der alten Strategie des doppelten Spiels mit der NATO und Russland abwenden und eindeutig gegen Russland positionieren musste, bedeutet auch für zahlreiche andere Staaten in Osteuropa, dass die Zeit des Taktierens vorbei ist. Vielmehr werden wir in den nächsten Jahren mit Zuspitzung der imperialistischen Widersprüche in Osteuropa auch eine eindeutigere Hinwendung der osteuropäischen Ländern entweder zur NATO und EU, zu Russland oder zu China sehen.

Dieser Drang zur Klarheit gilt auch für die Imperialisten selbst: Während für China Europa eher ein untergeordneter Nebenschauplatz neben dem Pazifik bleiben wird, entscheidet sich für den russischen und deutschen Imperialismus vor allem in Osteuropa, ob eine eigene Geostrategie tatsächlich verwirklicht werden kann – oder ob sich die Staaten als Juniorpartner – Russland wohl von China, Deutschland von den USA – begnügen müssen.

Mohannad Lamees
Mohannad Lamees
Seit 2022 bei Perspektive Online, Teil der Print-Redaktion. Schwerpunkte sind bürgerliche Doppelmoral sowie Klassenkämpfe in Deutschland und auf der ganzen Welt. Liebt Spaziergänge an der Elbe.

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