Die Bundeswehr und Deutschland feiern heute ihre siebzigjährige Zugehörigkeit zur NATO. In der westdeutschen Geschichtsschreibung stellt der 6. Mai 1955 ein symbolträchtiges Datum dar, denn es ist der Tag, an dem die BRD einem antikommunistischen Militärbündnis beitrat. – Ein Kommentar von Paul Gerber
Heute vor 70 Jahren trat die BRD offiziell der NATO bei, am Ende des Jahres 1955 begann dann die Wiederbewaffnung Westdeutschlands. Für die deutsche Kapitalist:innenklasse war es ein unverhoffter Triumph, dass die Remilitarisierung des Landes zehn Jahre nach der Niederlage des deutschen Faschismus, nicht nur toleriert wurde, sondern in Gestalt der USA von der wohl mächtigsten Siegermacht sogar aktiv gefordert und vorangetrieben wurde.
In ihrer Selbstdarstellung greift die Bundeswehr auch heute noch den Mythos einer „militärischen Stunde Null“ auf, die Bundeswehr unterscheide sich qualitativ ganz und gar von den Strukturen der Nazi-Armee.
Natürlich sprechen heute die kontinuierlichen Skandale um geklaute Munition und Waffen, sowie neofaschistische Netzwerke in der Bundeswehr schon für sich genommen eine ganz andere Sprache. Aber auch schon 1955 war die Erzählung, man habe sich in nur zehn Jahren vom Erbe des Faschismus reingewaschen, eben nur eine Erzählung.
Rechte Schattenarmee: Und immer wieder das KSK, die Eliteeinheit der Bundeswehr
Der Antikommunismus des westlichen Lagers
Die Grundlage für die Wiederbewaffnung Westdeutschlands und seine Aufnahme in die NATO war die gemeinsame Feindschaft der westlichen Besatzungsmächte und der deutschen herrschenden Klasse gegenüber dem Kommunismus – in Gestalt der Sowjetunion und indirekt auch in Gestalt der jungen DDR.
Tatsächlich bestand dieses gegenseitige Verständnis zwischen Siegern und Besiegten aber nicht erst 1955, als bei einer politischen Konferenz in Paris dem besiegten Westdeutschland eine größere staatliche Souveränität zugebilligt wurde.
Weder die alten Militärs der Nazis noch die Geheimdienste der USA ließen irgendetwas anbrennen, als sie nach 1945 erkannten, dass nach der militärischen Niederlage des deutschen Faschismus nunmehr die Sowjetunion ihr wichtigster Feind war und überdies noch weltweit massiv an Ansehen gewonnen hatte.
Nazis in Geheimdiensten, Militär und der Regierung
Kenner:innen der Geschichte ist vielleicht noch bekannt, dass die nach Reinhard Gehlen benannte Organisation Gehlen (O.G.) – seit ihrem Aufbau im Jahr 1946 die Vorgängerorganisation des Bundesnachrichtendienstes – ganz gezielt und mit Einverständnis des CIA aus alten Nazi-Kader:innen aufgebaut wurde.
Deutlich weniger bekannt ist, dass in Deutschland schon spätestens 1949, wiederum mit Einverständnis der USA, Schattenarmeen aufgestellt wurden, die zur Abwehr einer vermeintlich drohenden Invasion der Sowjetunion oder für einen Bürgerkrieg mit den Kommunist:innen in Deutschland bereit stehen sollten. Im Vordergrund des amerikanischen Interesses standen dabei die sogenannten „Crack-Divisionen“ (Durchbruch-Divisionen), also die kampferprobtetsten Abteilungen der Nazi-Kriegsmaschinerie. Hierbei handelte es sich oftmals um SS-Kampfverbände mit entsprechend überzeugten Nazis.
Ziel war es, diese möglichst vollständig wieder zu reaktivieren und im Falle einer sowjetischen Invasion nach Frankreich zu evakuieren, um von dort gemeinsam mit den westlichen Alliierten Deutschland wieder „freizukämpfen“.
Auch der erste westdeutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer erfuhr von diesen Vorgängen, die unter anderem von seinen Militärberatern selbst vorangetrieben wurden, und beauftragte ganz offiziell den Ex-Nazi Reinhard Gehlen, die entsprechenden Ansätze einer Schattenarmee zu „betreuen“.
Traditionserlass: Nazi-Generäle als Vorbilder der Bundeswehr
Legalisierung der Wiederbewaffnung
Da Deutschland offiziell demilitarisiert werden sollte, wie es die vier Siegermächte unter Einschluss der Sowjetunion nach Kriegsende festgelegt hatten, war das natürlich ein offensichtlicher Verstoß gegen die Vereinbarungen unter den Siegermächten und damit illegal.
So betrachtet stellt der NATO-Beitritt und die Gründung der Bundeswehr nur im größeren Stil eine Legalisierung dessen da, was in der BRD ohnehin schon seit Jahren Praxis war. Die entsprechenden Überbleibsel der Nazi-Armee konnten dementsprechend rasch in die Bundeswehr überführt werden.
Proteste brutal niedergeschlagen
Dass die Remilitarisierung nicht im Interesse der deutschen Bevölkerung war, kann man heute nicht nur im Rückblick feststellen – das war deutschen Arbeiter:innen auch schon damals bekannt. Der Zweite Weltkrieg und die Zerstörung, die er mit sich brachte in frischer Erinnerung, war ein Großteil der Bevölkerung gegen den Aufbau eines deutschen Militärs – 1949 waren es fast dreiviertel der Befragten.
Dementsprechend kam es über die frühen 1950er Jahre hinweg zu einer Vielzahl an Protesten gegen die Remilitarisierung. Angeführt wurden diese Proteste häufig unter anderem durch Kommunist:innen und Jugendliche wie Philipp Müller.
1. Mai: Revolutionäre Demos wachsen an – Polizei hält sich zurück
Der jungen BRD waren diese Proteste ein Dorn im Auge, weshalb 1952 Großdemonstrationen in Westdeutschland verboten wurden. Philipp und hunderte andere wollten sich dies nicht gefallen lassen und nahmen in Essen trotzdem an einer verbotenen Versammlung teil. Dort wurde der 21-Jährige schließlich von Polizisten erschossen, zwei andere wurden schwer verletzt.
Gegen die Polizisten, die ihn umbrachten, wurden nie Ermittlungen eingeleitet, elf der Demonstrant:innen wurden hingegen zu Gefängnisstrafen verurteilt.