Im dritten Krisenjahr der deutschen Wirtschaft wird mit dem Koalitionsvertrag ein weiterer Rückschritt für Arbeiter:innen beschlossen. Parallel sinkende Reallöhne nach schlappen Tarifrunden und Standortschließungen machen den Ruf nach einer kämpferischen Arbeiter:innenbewegung stark. – Ein Kommentar von Mario Zimmermann.
Die Geschichte der Einführung des Acht-Stunden-Tages in Deutschland ist eng mit der frühen Arbeiter:innenbewegung verbunden. Auf dem Genfer Kongress der Internationalen Arbeiterassoziation (auch I. Internationale) 1866 wurde unter Mitarbeit von Karl Marx und Friedrich Engels die allgemeine Forderung des Acht-Stunden-Tages aufgestellt.
Nach jahrelangen Kämpfen der Arbeiter:innen für ihre Interessen und gegen die Ausbeutung vom Kindesalter an in 10-, 12- und 14-Stunden-Schichten wurde 1918 der Acht-Stunden-Tag eingeführt. Dies geschah im Stinnes-Legien-Abkommen, das führende Industrielle mit rechten Gewerkschaftern beschlossen, um die Arbeiter:innenbewegung zu befrieden. Kurz zuvor war die Novemberrevolution ausgerufen wurden und bewaffnete Arbeiter- und Soldatenräte forderten den Staat und die Kapitalist:innen heraus, die sie für das Kriegsleid verantwortlich machten. Die Industriellen, welche um jeden Preis die kapitalistische Produktion und die Eigentumsverhältnisse aufrecht erhalten wollten, ließen sich auf den Handel ein. 1923 schon, während der Wirtschaftskrise, wurde der Acht-Stunden-Tag aufgeweicht und eine tägliche Arbeitszeit von 10 Stunden wieder ermöglicht.
Wahrend es auch heute zahlreiche Ausnahmen von der Regel gibt, wie z.B. in der Gastronomie, oder in der Pflege, wo auch längere Arbeitstage an der Tagesordnung sind, bleibt die Acht-Stunden-Norm eine wichtige Errungenschaft der Arbeiterbewegung. Mit der Einführung der 35-Stunden-Woche in der Industrie und dem Kampf um die Angleichung in Ostdeutschland ist man sogar einen Schritt weiter gekommen.
Was uns heute selbstverständlich vorkommen mag, ist nun akut bedroht. Die Einführung der Sechs-Tage-Woche in Griechenland seit dem Juli 2024 zeigt uns, wie der Trend zur Absenkung der Wochenarbeitszeit sich umgedreht hat und von konservativen Regierungen und Kapitalverbänden Rückschritte organisiert werden. Ähnliches steht uns in Deutschland akut bevor.
„Der Koalitionsvertrag enthält vernünftige Pläne…“
… schreibt der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) in seiner Erklärung zum Koalitionsvertrag. Vernünftig ja, im Sinne des Standortnationalismus, aber nicht im Sinne der arbeitenden Bevölkerung. Mit der Verabschiedung des Koalitionsvertrages wird sichtbar, wohin die Reise für die Arbeiter:innen in Zukunft gehen soll: Sie sollen herhalten, um die Gewinne der Wirtschaftsbosse zu sichern und auf ihrem Rücken soll den Sprung aus der aktuellen Krise geschafft werden.
Sicher gestellt werden soll das durch Förderungen und Steuererleichterungen für Unternehmen. Darunter fällt die Senkung der Körperschaftssteuer, mit der der Gewinn von Unternehmen besteuert wird. Mit der geplanten Einführung des Industriestrompreises soll für energieintensive Unternehmen der Strompreis auf niedrigem Niveau gedeckelt werden. Der Haken: Die Differenz erlassen ihnen nicht etwa E.ON, Vattenfall und Co., sondern die zahlt der Steuerzahler, also wir Arbeiter:innen. Das klingt nach ordentlich Zuckerbrot für die Wirtschaftsbosse – nur wer kriegt die Peitsche?
Richtig: Die überwiegende Mehrzahl der Bevölkerung, die täglich die Produkte erarbeitet, die sich dann von den Bossen angeeignet und zu saftigen Gewinnen verkauft werden. Zum Dank soll nun der tägliche Regelarbeitstag von 8 Stunden ersetzt werden durch eine wöchentliche Arbeitszeit von 40 Stunden. Klingt nicht nach einer großen Nummer? Leider falsch, die Auflösung des Acht-Stunden-Tages bei gleichzeitigen Anreizen, Überstunden zu leisten durch die Befreiung von der Einkommenssteuer, weisen in eine Richtung: Mehrarbeit.
Krankenschwester mit 75 Jahren?
Diese Mehrarbeit soll uns auch ins hohe Alter begleiten. Für die Wirtschaftsbosse ist es wichtig, zur Steigerung ihres Profits die Lohnkosten zu drücken. Dazu gehören auch die Lohnnebenkosten, die in das Sozialversicherungssystem für die Arbeitslosenversicherung, Gesundheitsversorgung oder die Rente fließen.
Mit der steigenden Zahl an Rentner:innen, auf die im Verhältnis dazu weniger Einzahler:innen kommen, tun sich zwei grobe Entwicklungsmöglichkeiten auf: Es werden entweder die Beiträge für Rente etc. massiv erhöht, was deutlich steigende Lohnnebenkosten bedeuten würde, oder die Qualität der Dienstleistungen der Sozialversicherungen sinkt ab. Das würde im Fall der Rente eine Erhöhung des Renteneintrittalters oder eine Senkung des Rentenniveaus bedeuten.
Durch die Aktivrente, die von der Koalition unter Merz verabschiedet werden soll, wurde ein wichtiger Schritt für den zweiten Weg gegangen. Bald sollen Rentner:innen bis zu 2000 Euro steuerfrei dazu verdienen können. Betont wird dabei die Freiwilligkeit. Nur das Abrutschen in Altersarmut hat selten etwas mit Freiwilligkeit zu tun und mit Faulheit noch weniger. Bilder von Rentner:innen, die Pfand sammeln oder bei der Tafel Schlange stehen, gehören in den Städten fest zum Bild dazu. Gearbeitet haben dabei alle von ihnen – bei den steigenden Miet- und Lebensmittelpreisen kommt man mit 48 % des letzten Gehalts (im Idealfall) nicht sonderlich weit. Nun wird der Weg geebnet, nicht für eine stabile Rente, sondern für weiterarbeiten, weil die Rente nicht zum Leben reicht und in Zukunft noch weniger reichen wird.
Gewerkschaften organisieren Reallohnverlust
„Was nun herausgekommen ist, ist ein schwieriger Kompromiss. Wir hätten uns mehr gewünscht“, sagt der Vorsitzende der Gewerkschaft ver.di zum Ergebnis der Schlichtung beim Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen (TVÖD). Nach drei Verhandlungsrunden, in denen sich das Innenministerium und die kommunalen Arbeitgeberverbände erst fast komplett verweigerten, wurde ein Schlichtungsverfahren einberufen, dessen Ergebnis die Bundestarifkommission von ver.di schlussendlich zustimmte. Statt der geforderten 8 Prozent, aber mindestens 350 Euro Entgelterhöhung bei einer Laufzeit von 12 Monaten und drei zusätzlichen Urlaubstagen, steht nun der Kompromiss der Schlichtung zur Abstimmung für die Gewerkschaftsmitglieder: 3,0 Prozent Entgelterhöhung ab dem 1. April 2025, darauf 2,8 Prozent Erhöhung ab 1. Mai 2026 bei einer Laufzeit von 2027 Monaten. Ab 2027 soll es einen Urlaubstag mehr geben.
Was für nicht tarifgebundene Arbeiter:innen annehmbar klingen mag, ist mit dem Blick auf die harten Zahlen ein handfester Reallohnverlust für über 2,5 Millionen Beschäftigte: Seit 2020 sind die Verbraucherpreise laut offiziellen Zahlen um 18 Prozent gestiegen. Die Entgelte des TVÖD stiegen im gleichen Zeitraum im Mittel um 14 Prozent. Mit Blick darauf, dass also mindestens 4 Prozent Reallohnsenkung aufzuholen waren, gleichzeitig aber die Preise weiter kräftig steigen, wird klar, was den Beschäftigten im öffentlichen Dienst präsentiert worden ist: Ein fauler Kompromiss.
Dazu kommt, dass die Berechnungsgrundlage der steigenden Verbraucherpreise Durchschnittswerte darstellen, die missachten, wieviel mehr Geringverdiener:innen für das Notwendigste wie Lebensmittel und Strom ausgeben. Doch gerade dort war mit 32,8 und 30 Prozent die Teuerung noch viel stärker. Der TVÖD betrifft dazu viele unterbezahlte Berufsgruppen, die wichtige öffentliche Dienstleistungen aufrechterhalten. Darunter sind Müllwerker:innen, Krankenpfleger:innen, Erzieher:innen, Busfahrer:innen und die Beschäftigten der öffentlichen Wasser- und Energiewerke.
Deren Warnstreiks in den letzten Monaten waren vielen Menschen schnell aufgestoßen. Plötzlich blieben die Haltestellen unbedient und Müllberge auf den Gehsteigen liegen. Das hat aber gerade gezeigt, dass die Streiks wirksam waren und wehgetan haben. Deshalb hätte man sie unbedingt konsequent fortführen müssen. Nur leider haben die Gewerkschaften bei diesen Auseinandersetzungen nicht konsequent für die dringendsten Nöte der Arbeiter:innen gekämpft. Vielmehr wurde mit einem Funktionärskörper aus hauptberuflichen Sekretär:innen von oben nach unten durchregiert und der Streik lieber einmal früher links liegen gelassen. Was wir stattdessen brauchen, ist aktive Solidarität von unten zwischen allen Arbeiter:innen, die von Reallohnsenkungen und Verschlechterungen ihrer Arbeitsbedingungen betroffen sind.
„Schwierige Zeiten“ – Ver.di kapituliert in den TVöD-Verhandlungen
Weder kuschen noch kuscheln: Kritisch sein und kämpfen!
Während die Straßen in den Städten noch leer sind, brodelt es unter der ruhigen Oberfläche in vielen Arbeiter:innenvierteln und Betrieben. Es reicht nicht, über die schlechten Tarifabschlüsse zu jammern oder angesichts der drohenden Angriffe der Regierung zu resignieren. Stattdessen müssen wir uns in unseren Betrieben mit Kolleg:innen zusammenschließen und konsequent dafür kämpfen, dass faule Kompromissabschlüsse wie beim TVÖD abgelehnt werden und in neuen Verhandlungen die Streiks konsequent weitergeführt werden, bis wir uns unsere Reallohnverluste der letzten Jahre zurückgeholt und noch ein dickes Plus obendrauf erzielt haben. Ebenso müssen wir in Betrieben und Stadtteilen gegen die geplanten Angriffe auf Arbeiter:innenrechte mobil machen und dafür auch auf die Straßen gehen. Gemeinsam entschlossen kämpfen statt uns als Arbeiter:innen gegeneinander ausspielen lassen und früh kleinbei zu geben – nur so sorgen wir dafür, dass die Unternehmen die Folgen der Krise tragen und nicht wir!
Dieser Text ist in der Print-Ausgabe Nr. 98 vom Mai 2025 unserer Zeitung erschienen.Â