Nach der beim 12. Kongress der PKK beschlossenen Selbstauflösung bleiben zahlreiche offene Fragen. Als Rückschritt und gefährliche Illusion lässt sich der Schritt in der vollzogenen Form dennoch bereits analysieren. – Ein Kommentar von Paul Gerber.
Die PKK beschließt auf ihrem 12. Kongress ihre Selbstauflösung als bewaffnete politische Organisation und läutet damit nach eigenen Angaben eine neue Phase in ihrem Kampf um eine Demokratisierung der Türkei und die Rechte des kurdischen Volkes ein.
Auf den ersten Blick erinnern die Beschlüsse des Kongress-Kommuniques in vielem frappierend an ähnliche Prozesse der kolumbianischen FARC oder der baskischen ETA – ebenfalls jeweils linke Guerilla-Bewegungen, die über Jahrzehnte einen bewaffneten Kampf in ihren jeweiligen Ländern organisieren konnten.
Dort waren die Friedensprozesse jeweils das Ergebnis einer Situation, in der die Guerilla vom jeweiligen Staat und seinen Repressionsorganen zwar nicht zerschlagen werden konnte, aber auch keine durchschlagenden Erfolge auf ganzer Linie erzielen konnte. Somit suchten sie ab einem bestimmten Punkt den Weg der Verständigung und des Kompromisses mit dem Staat, da sie ihren Kampf absehbarer Weise nicht mit den alten Mitteln zum vollen Erfolg führen können. Oft spielten hierbei auch Amnestie-Vereinbarungen eine Rolle – in Kolumbien waren sogar Parlamentssitze für die Vertreter:innen der FARC-Bewegung fest vorgesehen.
Darüber, ob es im Hintergrund bereits ähnliche Annäherungen zwischen der PKK und dem türkischen Staat gibt, kann bisher nur spekuliert werden. Dem türkischen Staat nahestehende Medien kolportierten am Montag teilweise, dass bis zu 300 führende PKK-Mitglieder in Drittländer wie Norwegen oder Südafrika gebracht werden sollen. Es bleibt jedoch gut möglich, dass es sich dabei eher um ein Gerücht handelt, das gezielt gestreut wird, um die Kongressbeschlüsse der PKK als Triumph des türkischen Faschismus darzustellen.
Was sind die Gründe hinter der PKK-Selbstauflösung?
Auch über die Gründe für die Entscheidung der PKK zur Selbstauflösung und Einschränkung der eigenen Kampfmittel auf legale Mittel gibt es momentan viele Spekulationen. Ähnliche Schritte oder Beschlüsse hatte es schließlich in ihrer Geschichte immer wieder gegeben, oftmals war es dann aber nie zu ihrer Umsetzung gekommen, beziehungsweise es erfolgte eher ein Formwechsel.
Eine häufige, aktuell diskutierte Theorie ordnet die Kongressbeschlüsse als taktischen Rückzug ein, um die eigenen Kräfte auf die Stärkung und Verteidigung der Rojava-Revolution in Syrien konzentrieren zu können. Und natürlich wäre es recht arrogant, in den Zeilen einer kleinen, sozialistischen, deutschen Zeitung die kurdische Bewegung dafür zu „kritisieren“, dass sie möglicherweise nicht die Kräfte hat, um auf Dauer einen Krieg an mehreren Fronten, in mehreren Ländern Westasiens durchzuhalten.
Doch unabhängig von solchen Überlegungen ist es wichtig, aus sozialistischer Perspektive klar auszusprechen, dass es sich eben um mehr als einen bloßen Waffenstillstand oder einen zeitweiligen Rückzug von einer Kampffront handelt.
Gefährliche Illusionen für einen friedlichen Kampf gegen den Faschismus
Die Beschlüsse der PKK werden von ihr selbst eben nicht als notwendiger Kompromiss mit dem türkischen Faschismus bezeichnet, sondern als notwendig, um den Kampf für die Gleichstellung der Völker Westasiens erfolgreich zu führen.
So sehr die kurdische Guerilla Erfahrungen gesammelt und Kampfmethoden entwickelt hat, die für alle anderen Revolutionär:innen in der Region extrem wichtig sind und im gewissen Maße für die kommunistische Bewegung auf der ganzen Welt eine wertvolle Erfahrung bilden, birgt es natürlich auch große Gefahren für all diejenigen Kräfte, die ebenfalls militant Widerstand gegen den türkischen Faschismus leisten, wenn ausgerechnet die PKK nun so offensiv ihre Abkehr vom bewaffneten Kampf und ihre Hinwendung zu einem „demokratischen“ Weg zum Sozialismus erklärt.
Selbst in den Teilen der türkischen und kurdischen Arbeiter:innenbewegung, in denen Abdullah Öcalan keine absolute Autorität genießt, kann ein solcher Schritt zu moralischen Krisen führen und den Glauben an die Legitimität und vor allem die Erfolgsaussichten des bewaffneten Kampfes gegen den Faschismus erschüttern.
Ganz unabhängig davon, dass viele revolutionäre Organisationen zum Beispiel in Form des revolutionären Bündnisses HBDH oder auch in den Reihen der YPG in Rojava über Jahre oder gar Jahrzehnte Seite an Seite mit der kurdischen Freiheitsbewegung gekämpft haben, führt der von der PKK angestrebte Weg zu einem objektiven Widerspruch zwischen ihr und anderen revolutionären Kräften.
Wenn die PKK eine „Legalisierung“ der Verhältnisse und Kampfformen mindestens in der Türkei anstrebt, während sich die diversen illegalisierten kommunistischen Organisationen weiterhin auf alle Kampfmittel stützen und damit das Gewaltmonopol des Staats weiterhin herausfordern, kann das durchaus auch zu sehr direkten Interessensgegensätzen führen. Die Spaltung der demokratischen und fortschrittlichen Kräfte wird dem Staat ohnehin erleichtert.
Alle Waffengattungen oder nur die Waffe der Solidarität?
Von der kurdischen Bewegung und ihrer Führung selbst wird überdies zum Teil noch die Illusion verbreitet, dass die einseitige Entscheidung der PKK auch den Druck auf den türkischen Staat erhöhe, von seinen Vernichtungsabsichten gegen die Guerilla und kurdische Bewegung abzusehen.
So heißt es in einem am 12. Mai erschienenen Artikel, der die Kongressbeschlüsse einordnen will:
„Es ist zu erwarten, dass der türkische Staat mit noch härteren Mitteln gegen die Zivilgesellschaft vorgeht. Doch dieses Vorgehen wird immer mehr unter dem Licht einer internationalen Öffentlichkeit stehen, die die Unterdrückung von zivilen Bewegungen zunehmend kritisch hinterfragt.“
Wer das Verhalten der „Weltöffentlichkeit“ im Bezug auf die ständigen Massaker Israels an den Palästinenser:innen, oder auch nur hinsichtlich der ständig stattfindenden Niederschlagung aller möglichen friedlichen Massenproteste auf allen Kontinenten der Welt beobachtet, kann sich über diese Illusion nur verdutzt die Augen reiben.
Der Anspruch ist natürlich nicht falsch. Und auch, wenn sie ihre Kampfformen verändert, bleiben die Anliegen der kurdischen Freiheitsbewegung demokratisch und unterstützenswert – gerade auch für die Solidaritätsbewegung hier in Deutschland. Dass jedoch die internationale Arbeiter:innenbewegung in ihrer aktuellen Verfassung den türkischen Faschismus zwingen könnte, sich bei der wahllosen Repression gegen alle politischen Gegner auch nur zu mäßigen, ist doch etwas weit hergeholt.
Die nächsten Schritte des türkischen Faschismus als großes Fragezeichen
Dennoch stecken auch sehr richtige Punkte in der zitierten Passage. Zum Beispiel die Erwartung, dass der türkische Staat härter gegen seine politischen Feinde vorgehen wird. Genauer gesagt läuft dieser Prozess seit Jahren und hat mit den Versuchen, die CHP als größte Oppositionspartei zurückzudrängen, in den letzten Monaten noch einmal neue Teile der türkischen Gesellschaft ins Visier genommen.
Den Kampf gegen den türkischen Faschismus nach Deutschland tragen!
Es zeigt sich hier sehr deutlich, dass der türkische Staat eben seinen faschistischen und rassistischen Charakter behält. Neben aller notwendigen Kritik an Abdullah Öcalans reformistischen Illusionen ist es einfach schwer vorstellbar, dass sich Faschismus und kurdische Freiheitsbewegung leicht einig werden, was die staatliche Struktur und mögliche Verfassungsänderungen angeht. Bislang jedenfalls sind keinerlei konkrete Ankündigungen von Zugeständnissen von Seiten des türkischen Staates oder seiner Regierung zu hören.
Allein die Idee einer echten Gleichberechtigung zwischen dem türkischen und dem kurdischen Volk samt der jeweiligen Nationalsprache würde nicht nur den türkischen Staat in seinen Grundfesten in Frage stellen. Es darf nicht vergessen werden, dass sich das AKP/MHP-Regime selbst auf eine in großen Teilen zutiefst nationalistische Massenbasis stützt. Auch das ist ein Faktor, der fraglich macht, ob aus dem einseitigen Schritt der PKK ein tatsächlich dauerhafter Kompromiss mit dem Staat folgen kann.
Selbst wenn sich die Interessen des türkischen Faschismus und der PKK momentan beispielsweise rein taktisch in dem Punkt treffen sollten, den Krieg in der Türkei zu beenden, um die eigenen Kräfte auf Konflikte in Nachbarländern wie Syrien zu konzentrieren: die soziale und politische Grundlage für den kurdischen Freiheitskampf ist damit nicht verschwunden.
Nordkurdistan bleibt ein unterentwickelter, besonders armer Teil der Türkei, die kurdische Sprache wird nicht als Amtssprache anerkannt und das gesamte kurdische Gebiet ist von Militärposten in Stadt und Land durchsetzt, welche die traditionell widerständige Bevölkerung unter Kontrolle halten sollen.
Sollte die kurdische Befreiungsbewegung also tatsächlich auf Dauer den revolutionären Kampf in der Türkei aufgeben, wird sicherlich nicht kurzfristig eine andere Kraft mit gleicher Stärke an ihre Stelle treten können – es handelt sich ohne Zweifel um einen Rückschlag für die revolutionäre Bewegung in der Türkei und weltweit.
Und doch öffnet sich hiermit ein politischer Raum für andere Ansätze, die ungelöste kurdische nationale Frage auf revolutionärer Grundlage zu lösen. Wie überall auf der Welt rufen auch die Verhältnisse in der Türkei nach dem Sozialismus.