Deutsche Politiker:innen scheinen ein Bedürfnis zu haben, sich nach eineinhalb Jahren Genozid in Palästina zu den humanitären Katastrophen der letzten zwei Wochen zu äußern. Doch warum kommt eine Kritik an Israel genau jetzt? – Ein Kommentar von Aziza Mounir.
Nach dem Beginn der zweiten Bodenoffensive im Gazastreifen hat sich die Lage in Palästina noch einmal drastisch verschlechtert. Vor allem Kinder leiden oder sterben an Mangelernährung. Nun gibt es einen neuen Plan für die Ausgabe von Hilfsgütern:
Das israelische Militär übernimmt die Verteilung. Mit Kontrolle der Personalien und Gesichtserkennungssoftware sollen die Empfänger:innen von Hilfsgütern geprüft werden. Dann bekommen sie Pakete für ihre Familie. Bei der Verteilung soll auch eine private militärische Firma aus den USA eingesetzt werden, die Gaza Humanitarian Foundation.
Seit zwei Tagen werden in Rafah – an der Grenze zu Ägypten gelegen – nun Hilfsgüter verteilt. Videos von vor Ort zeigen ausgehungerte Menschen, die zwischen Zäunen eingepfercht sind und Stunden auf ihre Pakete warten müssen. Bereits zehn Menschen wurden in den vergangenen zwei Tagen von israelischen Soldat:innen ermordet, während sie auf überlebensnotwendige Güter warteten.
Die ersten Eingeständnisse für humanitäre Hilfen in Gaza
Nach dem „Fall der Brandmauer“ zur AfD und dem Bundeskanzler-Wahldebakel der CDU kann es sich Friedrich Merz endlich im Kanzleramt bequem machen und überlegen, wie man sich wieder als seriöse Partei präsentieren kann. Seinen Kurs hat er dafür, seit er im Amt ist, schon einige Male korrigiert. Die Beispiele reichen vom Aussetzen der Schuldenbremse über das Ende der Taurus-Debatte bis hin zur Einladung des israelischen Ministerpräsidenten – gegen den ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) vorliegt – Benjamin Netanyahu nach Berlin.
Auch Friedrich Merz und der CDU dürfte aufgefallen sein, dass die gesellschaftliche Stimmung etwas zu kippen scheint: Das ZDF-Politbarometer vom 23. Mai zeigt, dass 80 Prozent der Befragten der Meinung sind, dass das militärische Vorgehen Israels nicht gerechtfertigt ist. Dieser Stimmung will sich die Partei – zumindest in Worten – beugen, um weiterhin irgendwie als wählbar dazustehen und einer innenpolitischen Eskalation der Lage vorzubeugen.
Merz erklärt deshalb nun: „Die Zivilbevölkerung derart in Mitleidenschaft zu nehmen, wie das in den letzten Tagen immer mehr der Fall gewesen ist, lässt sich nicht mehr mit einem Kampf gegen den Terrorismus der Hamas begründen.“ Nach wir vor hält der neue Bundeskanzler allerdings daran fest, dass Deutschland weiterhin „ein hohes Interesse daran, an der Seite Israels zu bleiben“, hätte.
Was dahinter steht, könnte im Fall der CDU und speziell bei Kanzler Merz die Vermutung sein, sich einerseits größeren Rückhalt in der Bevölkerung zu sichern und sich andererseits die Probleme vom Hals zu halten, die mit einer Zuspitzung des israelischen Vorgehens sowohl für Deutschlands Außenpolitik in Westasien als auch seine Innenpolitik einhergehen würden. In einem Wort: Schadensminimierung. Am Ende stehen für die deutsche Bourgeoisie die Interessen Deutschlands immer noch weit vor denen Israels.
Rechtsentwicklung in Israel – wie soll man die Haltung der USA und Deutschlands verstehen?
Ähnlich wie die CDU um Kanzler Merz macht es die SPD: „Deutsche Waffen dürfen nicht zur Verbreitung humanitärer Katastrophen und zum Bruch des Völkerrechts genutzt werden“, sagte der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Adis Ahmetović – nach 20 Monaten Völkermord. Dabei drängt sich die Frage auf, warum eine Partei, die in der vergangenen und aktuellen Regierung sitzt, es bei dieser mündlichen Aussage belässt. Nicht eine einzige Maßnahme wurde gegen den Gaza-Genozid getroffen.
Besonders zynisch ist das Instagram-Reel der beiden Bundestagsabgeordneten Luise Amtsberg und Deborah Düring. Bis vor wenigen Monaten konnte Amtsberg beispielsweise noch keine festgestellten Kriegsverbrechen nennen. Auch ihre prominente Grünen-Kollegin Annalena Baerbock lehnte bisher stets eine Waffenruhe ab. Nun aber solle ihren Aussagen nach ein Militäreinsatz – „immer unter den Bedingungen des humanitären Völkerrechts erfolgen“. Die Zuschauer:innen des Videos möchten aber trotzdem nicht vergessen: „Israel hat das Recht, sich selbst zu verteidigen.“
Messbare, konkrete Handlungen, die genau diese Hilfen umsetzten sollen, fehlen aber auch bei den Grünen. Es liegt die Vermutung nahe, dass es sich nicht um die ehrliche Anerkennung humanitären Leids handelt, sondern um das altbekannte Bild der „Bauchschmerzen“-Partei. Selbst die Partei Die Linke hat es bis heute nicht geschafft, einen konsequenten Kurs einzuschlagen.
Die Linke und der Genozid in Gaza: Warum sich die Partei weiterhin nicht positioniert
Viele Reden und wenig Taten
Die netten Worte der letzten Tage beziehen sich ausschließlich auf die Ereignisse der letzten zwei Wochen – seit dem Start einer erneuten Bodenoffensive im Gazastreifen und der Blockade humanitärer Hilfen. Die rote Linie der deutschen Politiker:innen scheint bei 57.000 Toten innerhalb von 20 Monaten, einer gebrochenen Waffenruhe und 80 Tagen ohne Hilfsgüter auch endlich erreicht zu sein.
Die Parteien möchten sich mit ihren Aussagen wieder als wählbar darstellen. Sie wollen die humanitäre Lösung als Antwort der bürgerlichen Mitte wieder stark machen. Das Konzept der „Friedensmacht Deutschland” hat schon im Hinblick auf die Ukraine gut funktioniert, um dahinter deutsche Interessen zu verdecken.
Es ist hierbei aber wichtig, nicht in das Narrativ zu verfallen, dass der Genozid die vergangenen Monate einfach nur nicht genug Aufmerksamkeit bekommen hätte und den deutschen Politiker:innen jetzt endlich die Schuppen von den Augen fallen. Denn die Bundesregierung liefert – trotz der erwähnten Rhetorik – weiterhin deutsche Waffen nach Israel, pflegt beste diplomatische Beziehungen zur Netanyahu-Regierung und schlägt gegen palästina-solidarische Proteste in Deutschland mit Repressionen ein. Der deutsche Staat stand nie an der Seite der Palästinenser:innen oder des Friedens in Westasien und tut es auch heute nicht – egal, was gesagt wird.