Das israelische Militär hat 10.000 Reservist:innen einberufen, um seine Angriffe auf den Gazastreifen, aber auch illegale Siedlungen im Westjordanland ausweiten zu können. Hilfslieferungen werden weiter vom israelischen Staat blockiert – anscheinend sogar mithilfe von Drohnenangriffen auf ein Schiff der „Freedom Flotilla“. – Ein Überblick über die Kriegspläne der israelischen Regierung und die humanitäre Katastrophe in Gaza.
Zwanzig Jahre ist es her, dass Israel den sogenannten „Abkoppelungsplan“ des damaligen Ministerpräsidenten Ariel Scharon durchführte: 21 israelische Siedlungen im Gazastreifen, sowie einige im Westjordanland wurden aufgegeben, und das israelische Militär zog sich aus Gaza zurück. Scharon ging es mit diesem Schritt nicht darum, die Unabhängigkeit des palästinensischen Volks zu stärken. Vielmehr erklärte er den Rückzug als notwendig um „Israels Macht über die Gebiete zu erhöhen, die notwendig für seine Existenz sind“.
Von der „Abkoppelung“ zur vollständigen Besatzung
Israels jetziger Premierminister, Benjamin Netanjahu, trat wegen Kritik an Scharons Abkoppelungsplan damals von der Regierung zurück: Der Gazastreifen werde durch die Abkoppelung zur einer „Basis des islamischen Terrorismus, der Israel gefährden wird“.
Doch trotz des teilweisen Rückzugs im Jahre 2005 hat Israel nie die Kontrolle über den Gazastreifen oder die anderen palästinensischen Gebiete aufgegeben. Der Plan beinhaltete weiterhin die vollständige Kontrolle über alle Grenzübergänge zu Gaza, über Gazas Luftraum und Gewässer.
Die Besatzung des Gazastreifens und des Westjordanlands hörte also trotz des Rückzugs nie auf.
Ebenso wenig endete der Widerstand unterschiedlicher palästinensischer Gruppen – an erster Stelle die Hamas – gegen die Besatzung und Angriffe des israelischen Militärs (IDF). Er gipfelte am 7. Oktober 2023 in einer unerwarteten Attacke auf israelische Soldat:innen, Reservist:innen, aber auch Zivilist:innen durch die Hamas und andere Gruppen.
Die israelische Regierung antwortet seitdem mit flächendeckenden Bombardements, gezielten Angriffen auf Krankenhäuser und Schulen und der vorsätzlichen Blockade von Hilfslieferungen. Israel zielt damit auf die Vertreibung und Auslöschung der gesamten palästinensischen Bevölkerung ab.
Dies ist ein Vorgehen, das die Bedingungen eines Völkermords erfüllt und laut der palästinensischen Gesundheitsbehörde bisher zu dem Tod von mindestens 61.700 Menschen geführt hat. Die Dunkelziffer dürfte weitaus größer sein.
Zwanzig Jahre nach dem Abkoppelungsplan will Netanjahus Regierung ihn nun verwerfen: Israelische Soldat:innen sollen, so Netanjahu, künftig in eroberten Gebieten stationiert bleiben. Ein Großteil der Bewohner:innen des Gazastreifens soll umgesiedelt werden. Der Kriegsminister Israel Katz kündigte ebenfalls an, dass die Armee „in jeder vorübergehenden oder dauerhaften Realität“ in sogenannten „Sicherheitszonen“ bleiben werde, um israelische Siedlungen zu schützen.
Gaza: 3.500 Kinder unter fünf Jahren stehen kurz vor dem Hungertod
Im Gazastreifen verschärft sich währenddessen die humanitäre Katastrophe mit dramatischer Geschwindigkeit: Die Stadt Rafah im Süden Gazas wurde laut der palästinensischen Pressebehörde „von der Karte gewischt“, 90 Prozent der Wohnhäuser sind zerstört, die Stadt gilt als unbewohnbar. Rund 390.000 Menschen wurden erneut vertrieben – in einem Gebiet, in dem es längst keinen sicheren Ort mehr gibt.
Seit über zwei Monaten blockiert Israel sämtliche Hilfslieferungen für die 2,3 Millionen Einwohner:innen. Die Folge ist akute Hungersnot: der Pressebehörde Gazas zufolge stehen 3.500 Kinder unter fünf Jahren kurz vor dem Verhungern, 70.000 Kinder werden wegen Mangelernährung behandelt – insgesamt sind 290.000 Kinder in Lebensgefahr. Das World Food Programme (WFP) vermeldet: Alle Nahrungsvorräte sind aufgebraucht, die Bäckereien geschlossen. Sauberes Trinkwasser ist kaum noch zu bekommen. Auch die medizinische Versorgung ist katastrophal: 37 Prozent aller Medikamente und 59 Prozent aller medizinischen Güter sind aufgebraucht.
Lebensmittelpreise sind explodiert: ein Kilo Tomaten kostet inzwischen umgerechnet 7 Euro, verglichen mit 70 Cent vor dem Krieg. Da gleichzeitig nur während der von Israel mehrfach verletzten Waffenruhe zwischen Januar und Ende März überhaupt Bargeld in den Gazastreifen floss und der Großteil der Banken im Gazastreifen zerstört ist, sind die Menschen in Gaza zunehmend auf den Tauschhandel angewiesen. Da sich die wenigsten frisches Gemüse leisten können, ernährt sich die Mehrheit der Bevölkerung von Essen aus Konserven. Doch auch der Brennstoff, um Essen zu erhitzen, ist so knapp, dass Menschen auf die Suche nach Trümmerholz gehen und zur Not sogar Kleidung und Schuhe verbrennen.
„Dies ist erst der Anfang“ – über 400 Tote in Gaza nach israelischen Angriffen
Drohnenangriff auf ein Schiff der Freedom Flotilla
Allem Anschein nach führt das IDF auch militärische Anschläge durch, um Hilfslieferungen weiterhin zu blockieren. Ein Schiff der Freedom Flotilla Coalition – eine Gruppe, die humanitäre Güter in den Gazastreifen liefern will und wollte – wurde am 2. Mai vor der Küste Maltas von zwei Drohnenschlägen getroffen. Ein Feuer brach aus, an Bord des unbewaffneten Schiffs befanden sich 30 Freiwillige. Während die maltesische Regierung bekanntgab, dass das Feuer unter Kontrolle gebracht worden sei, ist bisher unklar, was mit den Aktivist:innen auf dem Schiff passiert ist.
Angriffe auf Zivilist:innen sind zwar ein Kriegsverbrechen, jedoch schon längst Normalität im Gaza-Krieg. Umso mehr ist ein nicht provozierter Angriff auf ein ziviles Schiff in internationalen Gewässern nicht mit den Genfer Konventionen vereinbar. Sollte die IDF also hinter den Angriffen stecken, würde dies eine erneute Eskalation bedeuten. Die israelische Armee äußerte sich bisher nicht zu dem Vorfall.
Die Blockade der Hilfslieferungen hat auch im Sicherheitskabinett von Netanjahus Regierung für Streit gesorgt: So soll der israelische Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir noch dafür plädiert haben, die Lebensmittellager der Hamas gezielt zu bombardieren und Hilfslieferungen weiterhin zu blockieren. Stattdessen wurde nun ein Plan verabschiedet, Hilfslieferungen an vom israelischen Militär kontrollierten Knotenpunkten zuzulassen. Die Ausgabe der Hilfsgüter solle über eine private US-Firma erfolgen, von der Palästinenser:innen einmal pro Woche Güter erhalten können. Die UN weist diesen Plan zurück, da er darauf abziele, „die Kontrolle über lebenswichtige Güter als Druckmittel zu verstärken – als Teil einer militärischen Strategie“.
Illegale Siedlungen und Gewalt im Westjordanland
Die zunehmende Besetzung und Besiedlung des Westjordanlandes durch Unterstützung des Militärs gehört ebenso zu dieser Strategie: Der israelische Staat forciert unter Finanzminister Bezalel Smotrich die Annexion palästinensischen Gebiets – durch eine beschleunigte Genehmigung illegaler Siedlungen. Allein in den ersten drei Monaten des Jahres 2025 wurden mehr Siedlerprojekte genehmigt als im gesamten Jahr 2024. Der Ausbau sogenannter „Outposts“ – zunächst illegale, später vom Staat legalisierte Siedlungen – wird systematisch unterstützt.
Parallel dazu steigt die Gewalt durch israelische Siedler:innen und das Militär: Seit Jahresbeginn wurden im Westjordanland mindestens 20 palästinensische Kinder durch israelisches Militär getötet.
Die Besatzungspolitik zielt zudem auf die Isolierung einzelner Regionen – geplant ist nämlich der Bau einer 90 Millionen Dollar teuren Straße, die ausschließlich von Israelis genutzt werden darf. Gleichzeitig werden Palästinenser:innen in 60 Prozent des Westjordanlands keine Baugenehmigungen erteilt – eine strukturelle Enteignungspolitik.
Israel mobilisiert Reservist:innen, Deutschland liefert weiter Waffen
Internationale Vermittlungsversuche, unter anderem durch die USA, Ägypten und Katar, führten bisher zu keinem Durchbruch. Nach wie vor befinden sich laut israelischer Armee 24 Geiseln und die Leichen von 35 Verschleppten im Gazastreifen.
Die Hamas signalisierte indes Bereitschaft, auf die Kontrolle über den Gazastreifen zu verzichten und die Waffen niederzulegen – unter der Bedingung, dass ein unabhängiger palästinensischer Staat gegründet werde. Israel lehnt dies weiterhin strikt ab.
Das israelische Sicherheitskabinett hat im Gegenteil laut übereinstimmenden Medienberichten für eine Intensivierung der militärischen Offensive gestimmt – mit langfristigem Besatzungsziel. Bereits jetzt wurde eine neue Mobilisierungswelle gestartet: 10.000 Reservist:innen wurden einberufen, zum Teil zum siebten Mal seit Kriegsbeginn. Sie sollen reguläre Truppen ablösen, die dann verstärkt im Gazastreifen eingesetzt werden können. Parallel bereitet sich die Armee auf mögliche Einsätze im Westjordanland, im Libanon oder in Syrien vor.
Deutschland bleibt einer der wichtigsten Waffenlieferanten Israels. Im Januar genehmigte die scheidende Bundesregierung Rüstungsexporte im Wert von zwei Millionen Euro – darunter Komponenten für militärische Fahrzeuge, Elektronik und Software. Zwischen 2019 und 2023 kamen rund 30 Prozent aller israelischen Waffenimporte aus Deutschland.
Trotz der eskalierenden Menschenrechtslage, der massiven Zivilopfer und der Blockade humanitärer Hilfe wurde an dieser Praxis bislang nicht gerüttelt.