Seit Dienstagnachmittag ist es offiziell: Der ehemalige Aufsichtsratsvorsitz des weltweit größten Vermögensverwalters und einer der unbeliebtesten Politiker dieser Zeit wird der neue deutsche Bundeskanzler. Was die notwendige Zweitwahl über die deutsche Politik aussagt und was für eine Staatsführung uns in der kommenden Zeit erwartet. – Ein Kommentar von Tabea Karlo.
Noch nie seit dem Bestehen der Bundesrepublik Deutschland verfehlte ein Kanzler im ersten Wahlgang die erforderliche Mehrheit – bis jetzt: Gemeinsam haben SPD und Union 328 Stimmen im Bundestag, trotzdem erreichte Friedrich Merz (CDU) die notwendige Mehrheit von 316 Stimmen im ersten Wahlgang nicht. Im zweiten Wahlgang wurde er mit 325 Stimmen dann gerade so noch bestätigt. Doch die Kerbe in Ansehen und Karriere bleibt. Darüber hinaus entsteht der Eindruck, dass auch die neue Bundesregierung längst nicht so stabil und einheitlich ist, wie sie es gerne wäre.
Das Wahlspektakel um Merz ist ein perfektes Spiegelbild davon, in welcher Lage sich die deutsche Politik derzeit befindet. Inmitten einer Wirtschaftskrise, eines Handelskriegs und der Vorbereitung auf einen neuen großen Krieg ringt der deutsche Staat um Orientierung. Außenpolitisch gibt man sich machtbewusst, doch trotz der viertgrößten Rüstungsausgaben hinkt Deutschland im globalen Konkurrenzkampf und vor allem bei der Militarisierung hinter anderen imperialistischen Ländern hinterher. In dieser Situation wird Merz Kanzler – nicht, weil er breite Zustimmung genießt, sondern weil sich selbst seine politischen Gegenspieler:innen bereit erklärten, ihm den Weg freizuräumen. Grüne und Linkspartei, die zuvor stets gegen Merz polemisierten, machten durch Zustimmung zur Fristverkürzung einen zweiten Wahlgang bereits am am gleichen Tag, dem 6. Mai, möglich.
Kanzler in spe Friedrich Merz: Was blüht der Arbeiter:innenklasse?
Doch warum setzten sich denn am Ende selbst parteipolitische Gegner:innen für die Wahl von Merz ein? Hier spielen vor allem mehrere Faktoren eine Rolle:
- Mit Friedrich Merz geht das Kapital in die Offensive. Der deutsche Imperialismus will sich im Kampf um die Welthegemonie seinen Platz an der Sonne sichern. Das geht nicht mit Samthandschuhen, sondern erfordert Militarisierung nach Innen und Außen und somit zahlreiche Maßnahmen, die sich direkter als zuvor gegen die Arbeiter:innenklasse richten.
- Insbesondere in Zeiten, in denen sich die Widersprüche immer weiter zuspitzen, muss der deutsche Staat zur Durchsetzung seiner Interessen Einheit nach außen symbolisieren – auch dann, wenn Uneinigkeit darüber herrscht, welche Methoden die effektivsten sind, um den Status des deutschen Kapitals zu sichern.
- Auf parteipolitischer Ebene ist Linkspartei, Grünen, aber auch der CDU und SPD klar, dass öffentliche Streitigkeiten der Regierung vor allem einen Auftrieb der AfD bewirken und ihre eigene Position schwächen. Das gilt es aus ihrer Sicht zu verhindern, solange eine faschistische Stoßrichtung nicht die bevorzugte Option des deutschen Kapitals ist.
„Moneten-Merz”: Ein Kanzler fürs Kapital
In Zeiten der Krise regiert das Kapital doch lieber direkt als indirekt, und Friedrich Merz ist hierfür das perfekte Beispiel: Zum einen besetzte er gemeinsam mit CDU und CSU zahlreiche Minister:innenposten direkt mit bekannten Kapitalist:innen. Nicht, dass bisher Arbeiter:innen an der Regierung gewesen wären, aber die Frage ist ja doch oft, wie offen man die Korruption – im Bundestag oft verharmlosend auch als „Lobbyismus“ bezeichnet – zur Schau stellt und welche Art von Kapitalist:in man sich aussucht. Dass der Chef des neuen Ministeriums für Digitales der Chef der Media-Markt- und Saturn-Kette ist, scheint gerade zu komödiantisch. Merz ist aber auch selbst Kapitalist und saß von BlackRock Deutschland, über die Versicherung AXA, die Commerzbank, den BVB Dortmund bis hin zur Deutschen Börse AG schon mehrfach im Aufsichtsrat.
Dass Merz Kapitalist durch und durch ist, zeigt sich unter anderem an seinem Buch „Mehr Kapitalismus wagen“. Er fordert die Abschaffung des Bürgergelds, die Abschaffung der 40-Stunden-Woche, die Abschaffung des Lieferkettengesetzes, die Beschränkung von Migration und hat mit dem Koalitionsvertrag schon jetzt eine der größten Steuererleichterungen für Superreiche seit dem Bestehen der BRD angekündigt.
Alles in allem ist Friedrich Merz – seine spektakuläre Unbeliebtheit mal ausgenommen – einfach der perfekte Mann für eine Kanzlerschaft in Kriegs- und Krisenzeiten. Soziale Kürzungen, Beschränkungen der Rechte von Deutschen und insbesondere Migrant:innen und Subventionen für Kapital und Aufrüstung. Und dazu noch eine gehörige Prise Verachtung für Frauenrechte.
Linkspartei, Grüne und Co. – ist das noch Opposition?
Die Zustimmung von Linkspartei und Grünen zum zweiten Wahlgang von Merz ist letztlich als Kombination der ersten beiden Faktoren zu erklären. Dazu kommt, dass die beiden Parteien nun einmal das tun, was bürgerliche Parteien im Bundestag tun sollen: das System am Laufen halten.
De facto unterstützen beide Parteien damit die Wahl von Merz zum neuen Bundeskanzler. Zwar leugnen das sowohl Linkspartei als auch Grüne und betonen, dass sie ihre Stimmen nicht für den CDU-Politiker gegeben haben. Faktisch macht das allerdings kaum einen Unterschied. Denn mit der Fristverkürzung war klar, dass kein:e andere:r Kandidat:in vorgeschlagen würde.
Linkspartei und Grüne gaben selbst an, dass sie es für wichtig halten, dass die Regierung am 6. Mai aufgestellt und ein Kanzler gewählt wird. Sie sind also davon ausgegangen, dass ihre Zustimmung nicht nur bedeutet, dass erneut gewählt wird, sondern auch, dass Merz es im zweiten Wahlgang schafft. Gemeinsam mit der Abstimmung für das Aufrüstungspaket zeigt sich hier auch der wahre Charakter der Linkspartei – am Ende ist es auch ihr Zweck, das politische System zu stabilisieren. Das erkennt auch die CDU und plant derzeit, ihren Nicht-Zusammenarbeitsbeschluss mit der Linkspartei zu kippen. In der Praxis haben sie das ja mit den Gesprächen um den zweiten Wahlgang bereits getan.
Der deutsche Imperialismus in der Krise
Die Zusammenarbeit der CDUCSU mit den Grünen und der Linken erklärt sich wiederum daraus, dass sie derzeit erstens noch nicht bereit sind, mit der AfD gemeinsam eine Regierung zu stellen und dass sie zweitens wissen, dass ein zweiter verlorener Wahlgang ihre politische Stellung massiv geschwächt hätte.
Darüber hinaus wird deutlich, es geht um Parteipolitik, aber zugleich um viel mehr als das: Der deutsche Imperialismus steht unter Druck, seine globalen Macht- und Kapitalinteressen durchzusetzen – und braucht dafür eine durchsetzungsfähige Regierung. Derzeit ist er zwar bereit, Kompromisse mit faschistischen Kräften zu machen, will diese aber noch nicht an der Macht sehen.
Abschaffung des 8-Stunden-Tages, arbeiten im Alter – Was ist unsere Antwort?
Dass es eine zweite „Ampel“ zu verhindern gilt und dass es einen autoritäreren Staat braucht, um die Interessen des deutschen Kapitals durchzusetzen, darin mögen sich die Parteien und unterschiedlichen Kapitalfraktionen einig sein. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Zweitwahl kein Zufall war. Sie ist vor allem ein Symbol für die Krise der deutschen Politik: denn auch, wenn es permanent darum geht, dem deutschen Kapitalismus einen Platz an der Sonne zu sichern, gibt es in den strategischen Fragen eine tiefsitzende Uneinigkeit.
Politik für die Reichen – nicht mit uns!
Diese Krise der deutschen Politik, gemeinsam mit der spürbaren Zuspitzung von Krisen und Konflikten überall auf der Welt, löst bei vielen Teilen unserer Klasse Ängste und darauf aufbauend Wut aus. Bisher wird das allerdings vor allem durch rechte und faschistische Kräfte aufgegriffen. Das Wachstum der AfD hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass sie eine vermeintliche Alternative zu Unsicherheit und sinkenden Lebensstandards anbietet.
Während bürgerliche Kräfte dem entgegenwirken, indem sie versuchen, die vermeintliche bürgerliche Mitte wieder zusammenzubringen, muss die Situation für uns jetzt vor allem ein Weckruf sein. Ein Weckruf auf unterschiedlichen Ebenen.
Zum einen werden die Faschist:innen unsere Lage sicher nicht verbessern: liest man ihre Programme und hört ihnen aufmerksam zu, dann zeigt sich sehr schnell, dass sie noch radikaler als Merz Politik für die Reichen und gegen die Unterdrücktesten fordern. Es ist ein Weckruf aber auch in die Richtung, dass sich Antifaschismus, Frieden und Gerechtigkeit nicht wählen lassen – sondern erkämpft werden müssen. Wir haben es jetzt noch einmal schwarz auf weiß: Die Linkspartei will nicht verändern – sie will mitregieren. Wenn wir wirkliche Veränderung wollen, dann ist es Zeit, sich dafür einzusetzen. Und zwar außerparlamentarisch und klassenkämpferisch.