Zeitung für Solidarität und Widerstand

Polizeimord in Nürnberg – „Mein Bruder ist innerhalb von drei Minuten verblutet“

Im März wurde in Nürnberg der 38-jährige Qabel bei der Vollstreckung eines Haftbefehls von der Polizei erschossen. Seine Familie kämpft seitdem um Aufklärung und Gerechtigkeit. Wir sprechen im Interview mit seiner Schwester Furat, die selbst bei der Initiative Gerechtigkeit für Qabel aktiv ist.

Vielen Dank Furat, dass wir dich treffen können. Könntest du zuerst etwas über Qabel erzählen?

Qabel war 38 Jahre alt. Er war ein liebevoller Vater, hatte zwei Kinder. Er war Kampfkunstlehrer, Wing Tsun-Meister an der Wing-Tsun-Schule Nürnberg. Er hat dort jahrelang trainiert, insbesondere Kinder. Er hat Kindern Selbstverteidigung beigebracht.

Auf jeden Fall waren die Kinder für Qabel was Besonderes. Sie haben ihn sehr gemocht, er war sehr beliebt bei den Kindern. Er hat in vielen Bereichen unterrichtet, Lehrer, Kinder, Erwachsene, Privatschulen, aber eben auch Polizisten. Er hat in seiner Wohnung allein gelebt, in der Heisterstraße.

Kannst du uns schildern, was am 4. März geschehen ist?

Also wir wissen tatsächlich nicht viel. Was wir wissen, ist das, was uns die Polizei mitgeteilt hat. Wir haben nur teilweise Akteneinsicht. Die Ermittlungen laufen noch. Am Nachmittag des 4. März haben wir durch die Medien und Freunde erfahren, dass mein Bruder möglicherweise durch die Polizei getötet wurde. An seiner Wohnungstür haben wir eine Adresse vorgefunden, an die wir uns wenden sollten. Wir sind zu der Polizeidirektion gefahren, und die Polizei hat uns mitgeteilt, dass mein Bruder bei einem Polizeieinsatz erschossen wurde. Wie viele Schüsse es waren, haben sie uns damals nicht mitgeteilt. Wir durften tagelang nicht in die Wohnung, wir haben 10 oder 11 Tage gewartet, bis wir einen Schlüssel für die Wohnung bekommen haben.

Glücklicherweise haben wir dort den Haftbefehl gefunden, den die Polizei vollstrecken wolle. Er war so versteckt, dass sowohl die Polizeibeamten als auch die Spurensicherung ihn wahrscheinlich übersehen haben. Wir haben auch ein Foto davon. Der Haftbefehl war überdeckt von Plastiksäcken der Sanitäter und weiterem Zeug, sodass man die Blätter gar nicht gesehen hat. Wir haben sie erst gar nicht wahrgenommen. Erst als wir angefangen haben aufzuräumen, haben wir den Haftbefehl gesehen. Dadurch haben wir überhaupt erst erfahren, dass ein Haftbefehl vorliegt. Wir wussten gar nichts. Wir wussten nur: Er wurde in seiner Wohnung erschossen. Er ist tot.

Durch die Medien ging, dass er gesucht wurde. Ich dachte, „oh mein Gott, mein Bruder wurde gesucht“. Er ist ja schon seit Ewigkeiten zuhause, er war ganz normal sesshaft mit fester Adresse. Er lebte allein in seiner Wohnung, nachdem er sich von seiner Freundin getrennt hatte. Dann haben wir den Haftbefehl dem Anwalt vorgelegt. Der Anwalt sagte: Er hat so etwas noch nie im Leben gesehen. Der Haftbefehl war vom Ermittlungsrichter nicht unterschrieben. Dann haben wir die Haftgründe gelesen: Fluchtgefahr, weil er angeblich keinen festen Wohnsitz hätte. Und gleichzeitig war der Polizei seine Wohnung bekannt. Er hatte sich bereits im Juli 2023 angemeldet. Aber die Adresse wussten die Beamten, es gab auch andere Anschreiben von den Polizeibeamten, die alle an seine Adresse gingen. Sie wussten ganz genau, wo er lebt.

Die Haftgründe waren so überspitzt, dann haben wir gesehen warum überhaupt: Es gab einen Streit auf seiner Arbeit, seiner Kampfkunstschule. Da waren Kollegen von der Zirndorfer Schule, also Konkurrenten. Die haben Qabel irgendwie beleidigt, er sei ein schlechter Lehrer. Ich habe gehört, dass viele erzählt haben, dass sie Qabel nicht gemocht haben und Konkurrenten waren und Schüler abwerben wollten. Dann gab es in Qabels Schule eine Veranstaltung, wo auch sie waren. Er hat die beiden gesehen und einen Kollegen an der Schulter geschubst und gesagt: „Warum sagt ihr solche Dinge? Kommt, zeigt mal, wer hier schlecht oder gut ist.“ Der eine ist durch den Schubser an den anderen gestoßen. Das war alles. Das ist der Sachverhalt.

Die haben die Polizei angerufen, weil sie dachten sie haben ihn jetzt. Die Polizei kam, aber sie hatte auch kein Interesse, sie hat es aufgenommen. Die anderen haben auch eine Aussage gegeben, und sie meinten auch, diese Auseinandersetzung sei so uninteressant und dass die beiden einfach Kollegen sind. Die Polizei erwähnt nicht im Haftbefehl, dass sie auf seiner Arbeit waren und eher für ihn eine Gefahr darstellten, weil sie den Ruf der Schule schädigten.

Ich kann euch nur sagen, was mir gesagt wurde, Akteneinsicht haben wir noch nicht. Aber wir haben noch Augenzeugen befragt. Es war keine Körperverletzung, kein Tropfen Blut ist geflossen und da waren viele Augenzeugen, viele Schüler und Bekannte vom Qabel. Die Polizei sagte: Das Verfahren wird wahrscheinlich eingestellt. Qabel hat sich in Sicherheit gewogen und dachte: Es ist eine Auseinandersetzung mit Kollegen, was kann passieren? Geh ich mal hin und mache eine Aussage. 9 Monate lang passierte nichts.

Nach 9 Monaten, am 15. Juli 2024, erging der Haftbefehl. Erst am 4. März 2025 sollte er vollstreckt werden. Die Anzeige war vom 22., oder 23. Oktober 2023. Und das Ganze wird begründet mit Fluchtgefahr. Ich habe den Haftbefehl gesehen, ich studiere ja selbst Jura, und der Anwalt meinte, so etwas hätte er im Leben noch nicht gesehen. Wir haben das auch Staatsanwälten gezeigt, sie haben gesagt, das sei total überspitzt und merkwürdig. Da liegen wahrscheinlich andere Beweggründe vor, die wir nicht kennen. Wir vermuten, dass die besondere Benachteiligung von Ausländern im Verfahren besteht, weil der eine Anzeigenerstatter einen deutschen Namen hat. Mein Bruder hat einen ausländischen Namen und ist kein deutscher Staatsbürger. Wir vermuten solche Beweggründe, die nicht auf Sachlichkeit beruhen, sondern auf staatlicher Willkür. Meiner Meinung nach agierte die Staatsanwaltschaft wie ein Machtapparat, ähnlich wie ein Unrechtspakt, der die Rechte von Ausländern sabotiert.

Unsere nächste Frage ist zur Initiative Gerechtigkeit für Qabel: Was folgte für euch nach dem Tod von Qabel?

Warum wir uns Sorgen machen und weshalb wir die Initiative gegründet haben – Der Name ist Programm: Gerechtigkeit bedeutet, dass die Polizisten und die Staatsanwaltschaft zur Rechenschaft gezogen werden. Das heißt, wenn sie Fehler machen, wenn sie Menschen töten, wenn sie absichtlich Menschenrecht verletzen, dann muss das auch geahndet werden. So einfach ist das aber nicht, sobald der Staat selbst zum Täter wird. Wenn wir sogar die beiden Behörden haben, die Exekutive und die Judikative. Also die Justiz selbst, die eine Anweisung gibt, die jeder Grundlage entbehrt, durch den rechtswidrigen Haftbefehl. Und die tödliche Polizeigewalt, die unverhältnismäßig ist, die mit zwei Schüssen das Ganze beendet.

Das kam wirklich einer Hinrichtung nahe. Die Schüsse kamen einmal rechts, einmal links durch alle Organe hindurch. Mein Bruder ist innerhalb von drei Minuten verblutet. Die Schüsse kamen mit zeitlichem Abstand, ein Schuss ist gefallen, du siehst der Mensch stirbt, und dann nochmal. Das ähnelt dem Fall von Lorenz, der von hinten erschossen wurde. Stell dir vor, es gäbe diese Videoaufnahmen nicht, was hätten sie da gesagt?

Mein Bruder hat um 8 Uhr geschlafen, das wissen wir. Um 8:30 Uhr ist er gestorben, das stand im Obduktionsbericht. Wir wissen, dass er geschlafen hat, er war in seiner Wohnung, von ihm ging keine Gefahr aus. Er war nicht auf der Straße und hat Menschen verletzt oder so. Auch wenn er es täte, es begründet keine tödliche Gewalt, die ist immer unverhältnismäßig. Auch wenn die behaupten, er hätte ein Messer. Wenn mein Bruder schläft, und du kommst in seine Wohnung mit einem Haftbefehl, der handschriftlich korrigiert wurde, ohne Unterschrift, das erwartest du doch nicht. Die könnten auch keine Polizisten sein und ihn verarschen, mitnehmen, warum auch immer. Es gibt ja auch Fälle, wo falsche Polizisten an der Tür klopfen und Raub begehen. Man muss das alles mit Vorsicht genießen. Es ist nicht so, dass man einfach mit einem fragwürdigen Haftbefehl, vom Aussehen her gekritzelt, irgendwo hingeht. Es ist auch möglich dass mein Bruder den Haftbefehl vom Aussehen her gesehen hat und gesagt hat, „ich komme nicht mit“ – und zu Recht.

Und dann haben die Polizisten geschossen. Wir wissen, dass die Wohnung klein und der Abstand gering war. Ich glaube nicht, dass, wenn mein Bruder die wirklich angegriffen hätte, die einfach so raus gekommen wären. Und die Polizisten sind unverletzt. Die Philosophie der Kampfkunst, die er gelernt hat, sagt, man soll sein Zuhause zu schützen, das heißt auch den Staat. Keine Angriffe auf Polizisten, das ist eigentlich verboten nach ihren Prinzipien. Ich kann mir nicht vorstellen, dass mein Bruder auf Polizeibeamte losgehen würde. Er hat sie ja selbst trainiert und großen Respekt vor Polizeibeamten.

Auf dem Haftbefehl stand „Kampfkunstlehrer“. Also vermute ich, dass die Polizisten aus Angst auf ihn geschossen haben, falls er einfach nicht mitkommen wollte. Meiner Meinung nach haben sie nicht aus Notwehr geschossen, sondern um zu vollstrecken. Man wollte es nur vollziehen und hat aus Angst geschossen. Also gar nicht aus Notwehr, sondern aus Angst. Und wenn überhaupt, dann nur der erste Schuss, der zweite ist eh unverhältnismäßig.

Ihr kämpft um Gerechtigkeit. Wie kann man euch bei diesem Kampf unterstützen?

Wir brauchen auf jeden Fall Aufmerksamkeit, wir brauchen Zuspruch, wir brauchen Öffentlichkeit. Denn nur die Öffentlichkeit kann erreichen, dass Druck ausgeübt wird auf die Ermittlungsbehörden. Wir wissen, dass die Aufklärungsrate von ähnlichen Fällen bei drei Prozent liegt, zur Verurteilung kommt es in nur einem Prozent der Fälle.
Das Problem ist, dass wir wahrscheinlich um ein faires Verfahren kämpfen müssen. Man denkt vielleicht: Wir sind in Deutschland, wie kann das sein, dass ihr um ein faires Verfahren kämpfen müsst? Ja, genau das ist das Problem. Eigentlich sollten wir gar nicht um ein faires Verfahren kämpfen müssen. Eigentlich sollten wir sagen, der Staat beschützt uns und es wird die Justiz kommen, auf den Tisch schlagen und dann würde es ein faires Verfahren geben.
Aber so ist es nicht. Wir vermuten, dass die Ermittler jetzt alles daran setzen, dass dieser Polizist freigesprochen wird. Sie werden versuchen, alles meinem Bruder in die Schuhe zu schieben und zu sagen, er war schuld, wir haben aus Notwehr gehandelt, um die tödliche Polizeigewalt zu legitimieren. Die Polizisten allgemein fühlen sich wohl. Sie wissen: Mir passiert eigentlich nichts. Das sind Merkmale eines Machtapparats. Sie haben durch ihren Status eine Unantastbarkeit.

Auch in der Justiz: Die Staatsanwaltschaft ermittelt meistens mit den Polizeibeamten. Beim Fall von meinem Bruder ist das besonders, weil hier arbeiteten beide eng zusammen. Normalerweise ist es so: Ein Polizist handelt aus der Gefahrenabwehr heraus und erschießt jemanden, der gerade auf andere schießt oder sie verletzt. Das ist ihr öffentliches Recht, man arbeitet präventiv. Von meinem Bruder ging nie eine Gefahr aus. Es ging allein um die Strafverfolgung. Es gab die Anzeige, sie wollten das Verfahren sichern, und dann gab es den Haftbefehl. Es geht letztendlich um Prinzipien der Effizienz der Strafverfolgung. Mehr ist es nicht und deswegen muss man Menschen erschießen, um ein Verfahren zu sichern. Das heißt, die Justiz hat bei der Vollstreckung der tödlichen Gewalt mitgeholfen, eine Anweisung gegeben, dass sie überhaupt vollstrecken dürfen, und die Polizei hat unverhältnismäßig agiert, warum auch immer. Wir haben hier zwei Behörden, die ursächlich waren für den Tod meines Bruders. Das ist ein besonderer Fall.

Die meisten Fälle, die auf tödliche Polizeigewalt hinauslaufen, sind Gefahrenabwehr. Aber mein Bruder hat niemanden verletzt. Und die Polizisten gingen wegen eines rechtswidrigen Haftbefehls da rein. Wir vermuten, dass es fraglich ist, ob mein Bruder überhaupt die Tür aufgemacht hat, weil er geschlafen hat. Es ist vieles fraglich.

Wir versuchen, die Justiz zu bewegen, dass die tatsächlich richtig ermitteln, um diesen Polizisten zur Rechenschaft ziehen. Dass es aufgeklärt wird, dass es ein faires Verfahren gibt. Dass es auch eine Verurteilung gibt, auch wenn die Erfolgsquoten bei einem Prozent liegen. Wir kämpfen für dieses eine Prozent. Das kann man sich nicht vorstellen.

Vielen Dank für das Interview.

Zur Finanzierung der Initiative Gerechtigkeit für Qabel und zur Unterstützung von Qabels Kindern werden Spenden gesammelt. Für zusätzliche forensische Gutachten werden teils mehrere tausend Euro fällig. Mit dem Link gelangt ihr zum Spendenaufruf.

Perspektive Online
Perspektive Onlinehttp://www.perspektive-online.net
Hier berichtet die Perspektive-Redaktion aktuell und unabhängig

Mehr lesen

Perspektive Online
direkt auf dein Handy!