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Türkei: Sozialistische Jugend im Hungerstreik gegen Inhaftierung

In der Türkei finden derzeit wieder Prozesse gegen Mitglieder des Dachverbands der sozialistischen Jugendvereine (SGDF) und der Sozialistischen Partei der Unterdrückten (ESP) statt. Sie befinden sich seit Januar ohne haltbare Gründe im Gefängnis. Einige von ihnen protestieren momentan gegen ihre Inhaftierung mit einem unbefristeten Hungerstreik. – Ein Kommentar von Yara Silan.

Am 21. Januar 2025 wurden bei Polizeieinsätzen in İstanbul, İzmir, Ankara, Eskişehir, Yalova und Amed (Diyarbakır) Mitglieder der SGDF und ESP unter fadenscheinigen Gründen verhaftet und ihre Wohnungen durchsucht. Unter den 34 revolutionären Sozialist:innen sind auch Hatice Deniz Aktaş, Ko-Vorsitzende der Sozialistischen Partei der Unterdrückten (ESP), Tanya Kara, Sprecherin der Sozialistischen Frauenräte (SKM), und Berfin Polat, Ko-Vorsitzende der Föderation der sozialistischen Jugendverbände der Türkei (SGDF).

Die verhafteten Adnan Özcan, Ahmet Bilal Bay, Mazlum Ortaç und Erol Tunç wurden am 28. April das erste Mal einem Richter vorgeführt, genau so wie Bahadır Eren Çağırgan, Bekir Efe Cesur, Berkan Balcı und Emrah Topaloğlu. Vorgeworfen wird ihnen, Mitglied einer illegalen Organisation zu sein und damit kriminelle oder sogar terroristische Aktivitäten durchzuführen oder zu unterstützen.

Mit dieser Form der Repression wird klassischerweise versucht jede Opposition in der Türkei mundtot zu machen. Ob die Organisationen, um die es sich handelt tatsächlich verboten sind oder nicht, tut nicht viel zur Sache.

Repression gegen ESP kurz vor Wahlen in der Türkei

Verteidigung vor Gericht: Revolutionäres Gedenken ist legitim

So auch im Falle der SGDF und der ESP. Adnan Özcan, Mitglied des Vorstands der SDGF, wies die Anschuldigungen der aus vier Teilen bestehenden Anklageschrift des türkischen Staates vor Gericht zurück. Teile der Anklage betreffen unter anderem die Positionierung zum kurdischen Befreiungskampf und die Teilnahme an der 11. Generalversammlung der SGDF sowie die Suruç-Gerichtsverhandlungen.

Im Grenzort Suruç wurden 2015 33 Revolutionär:innen bei einem Bombenanschlag des sogenannten Islamischen Staates ermordet. Die SGDF hatte 2015 unter dem Slogan „Gemeinsam haben wir Kobane verteidigt, gemeinsam bauen wir es wieder auf“ hunderte Jugendliche in der Türkei mobilisiert um in das kürzlich befreite Kobane zu fahren und es wieder aufzubauen. Viele Mitglieder der SGDF wurden durch das Attentat ermordet oder schwer verletzt.

Bis heute vertuscht der türkische Staat seine Mittäterschaft in dem Anschlag, kriminalisiert und verfolgt die Familien der Ermordeten und alle die Gerechtigkeit für Suruç fordern.

Acht Jahre Massaker von Suruҫ: Acht Jahre Kampf für Gerechtigkeit

Aber nicht nur das Gedenken an Suruç-Gefallene wird in der Anklage benannt. Auch ein Video auf einem Kongress, das unter verschiedenen Revolutionär:innen unterschiedlicher Organisationen, auch Özgür Namoğlu, einen jungen Kommunisten, zeigt, der viele Jahre bei der sozialistischen Jugendorganisation Young Struggle in Dortmund aktiv war und 2023 vom türkischen Staat durch einen Drohnenangriff in Rojava ermordet wurde, wird als Hinweis auf illegale Organisierung aufgeführt.

Auch die Teilnahme an einem Picknick mit Konzert, das die revolutionäre Arbeiterzeitung Atılım zum 30. Jahr ihres Bestehens veranstaltete, wird in der Anklageschrift aufgeführt. Die Anklageschrift umfasst also verschiedene legal abgehaltene Veranstaltungen, in erster Linie Gedenken an ermordete Sozialist:innen, die kriminalisiert und als Ausgangspunkt für Haft und Folter gewertet werden.

In seiner Verteidigung sagte Özcan: „Die SGDF thematisiert die Probleme von Studierenden an Universitäten, kämpft dafür, dass junge Menschen in Arbeiter:innenvierteln nicht an Drogen geraten und versucht in einem männerdominierten System eine geschlechterbefreite Gesellschaft zu schaffen.“

Seit 20 Tagen im unbefristeten Hungerstreik

Nicht nur vor Gericht, auch hinter den Gefängnismauern geht der Widerstand der Gefangenen der SGDF weiter. Adnan Özcan, Ahmet Bilal und drei weitere Mitglieder der SGDF befinden sich seit dem 22. April in einem unbefristeten Hungerstreik. Der Streik richtet sich gegen ihre Haftbedingungen und ihre ungerechtfertigten Verurteilungen. Die inhaftierten Aktivisten befinden sich in einem „YGC“, Typ Hochsicherheitsgefängnis.

Dieser Typ von Gefängnis bedeutet völlige Isolation ohne Kontakt zu Familie, Anwält:innen und Freund:innen, leben auf engstem Raum in kaum belüfteten Zellen und ständige Überwachung. Sie sind damit Teil einer größeren Bewegung gegen den „YGC“- Gefängnis Typ. Revolutionär:innen und Sozialist:innen führen schon seit mehreren Jahren einen Kampf gegen diese Gefängnisse in der Türkei.

Warum jetzt?

Die Verhaftungen im Januar hatten das Ziel die Mobilisierung sozialistischer Kräfte in der Phase vom 8. März bis zum 1. Mai zu schwächen. Es war eine Vorbereitung für den Angriff auf die bürgerliche Opposition, die mit der Inhaftierung Ekrem İmamoğlus stattgefunden hat und ein Versuch, die revolutionäre Bewegung zu isolieren.

Ekrem İmamoğlu war der amtierende Bürgermeister İstanbuls und der größte Konkurrent Erdoğans. In den aktuellen Umfragen liegt er 7 Prozent vor Erdoğan.

Türkei: İmamoğlu in U-Haft – Proteste halten an

In den Tagen vor dem 1. Mai startete der türkische Staat eine neue Verhaftungswelle. Ziel waren neben den Mitgliedern der SGDF und ESP auch Kulturvereine, Künstler:innen und ein Institut für Ökologie, aber auch breite demokratische gesellschaftliche Plattformen, wie der Demokratische Kongress der Völker (HDK). Alle, die zu einer revolutionären Begehung des 1. Mai aufgerufen hatten – oder in anderen Worten, alle, die dazu aufgerufen hatten am 1. Mai zum Taksim-Platz zu gehen – traf die Repression.

Der Takism Platz im Stadteil Beyoğlu ist der historische Platz, an dem seit Jahrzehnten der 1. Mai stattfindet. In den 70er-Jahren strömten Millionen Arbeiter:innen auf den Platz um am 1. Mai teilzunehmen. Er hat eine historische Bedeutung und Wichtigkeit für die Arbeiter:innenbewegung, sodass es sogar als Grundrecht in der Verfassung festgeschrieben ist, dass die Arbeiter:innen ein Recht darauf haben, am 1. Mai auf dem Taksim Platz zu sein.

Seit einigen Jahren versucht der Türkische Staat dieses Recht auszuhebeln. Unter dem Vorwand der Gefahr einer zu großen Masse an Menschen riegelt die Polizei den Platz ab und lässt niemanden drauf.

Des weiteren war der Taksim Platz 2013 Zentrum eines der wichtigsten Aufstände in der jüngsten Geschichte der Türkei. Bei der Verteidigung des Gezi-Parks gegen ein geplantes Gentrifizierungsprojekt, was am 28. Mai begann und sich schnell auf den nahe gelegenen Taksim Platz ausbreitete, kamen verschiedene Teile der revolutionären Bewegung aus der Türkei und Kurdistan zusammen und schufen ein revolutionäres Zentrum im Herzen von İstanbul. Seit den Protesten und der Intensivierung der faschistischen Repressionen seit 2013 ist fast jeglicher Protest auf dem Taksim-Platz verboten.

Dieses Jahr hat das Gouvernementsamt von İstanbul sogar ganze U-Bahnen vor dem 1. Mai gesperrt um einen Marsch auf Taksim zu verhindern. Sozialist:innen und Revolutionär:innen ließen sich davon nicht aufhalten und versuchten immer wieder, die Polizeiketten und Barrikaden vor Taksim zu durchbrechen und diesen revolutionären Stützpunkt zurückzugewinnen.

Dass die neuen Verhaftungen wieder die SGDF treffen, ist vor allem vor dem Hintergrund der Aufstände im März nach İmamoğlus Verhaftung nicht verwunderlich. Obwohl viele Mitglieder der SGDF und ein Großteil des Vorstandes sich zu dem Zeitpunkt schon hinter Gittern befanden, war die SGDF trotzdem eine treibende Kraft an den Universitäten und führte den Kampf auf der Straße weiter. Die SGDF und ESP Fahnen verschwanden nicht von den Straßen.

Im Grunde zeigen die Verhaftungen und Prozesse gegen die SGDF und ESP ein weiteres Mal den Charakter des türkischen Faschismus. Sozialist:innen und Antifaschist:innen werden unter fadenscheinigen Begründungen einer Justiz ausgeliefert, die lediglich Handlanger des Erdoğan-Regimes ist. Die Prozesse der SGDF sind beispielhaft für die Tradition gezielter Angriffe auf revolutionäre Elemente, die sich durch die Geschichte des türkischen Staates zieht.

Angriff auf sozialistische Bewegung: Verhaftungen und Hausdurchsuchungen in der Türkei

Dazu gehören die Kriminalisierung von Gedenken an Gefallene, von revolutionären Kulturveranstaltungen und jeglichen Aktivitäten von legalen sozialistischen Organisationen und Parteien, wie die der SGDF und ESP.

Schon 2016 wurde die ehemalige Ko-Vorsitzende der Demokratischen Partei der Völker (HDP) und Mitglied der ESP, Figen Yüksekdağ, verhaftet und letztes Jahr an der Seite von Selahattin Demirtaş zu 30 Jahren Haft verurteilt. Die gezielte Verhaftung und Folter von gewählten Politiker:innen ist der Türkei also nicht fremd. Die Solidarität mit den politischen Gefangenen und ihrem Protest in Form der Hungerstreiks ist hier in Deutschland, einem Land mit exzellenten politischen Beziehungen in die Türkei, gefordert.

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