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Vergessen, verboten und verdreht: Die Fahne der Roten Armee

Am 8. Mai 1945 kapitulierte Deutschland, der zweite Weltkrieg war vorüber. Um den 80. Jahrestag des Triumphs über das faschistische Deutschland wird deutlich, wie sehr der Blick in die Vergangenheit von der Politik der Gegenwart geprägt ist. – Ein Kommentar von Mohannad Lamees.

Auch in diesem Jahr wird das Gedenken an das Ende des Faschismus in Deutschland in Berlin ohne die roten Fahnen der Sowjetunion stattfinden. Die Berliner Polizei verbot in und um die sowjetischen Mahnmäler in der Hauptstadt mittels Allgemeinverfügung das Tragen und Zeigen von Flaggen „mit russischem Bezug”, um ein „würdevolles Gedenken” an die Gefallenen der Roten Armee zu gewährleisten.

Ausgerechnet die Flagge der Sowjetunion, unter der die Rote Armee kämpfte, soll somit kein Teil des Erinnerns mehr sein. Dabei war sie es, die zunächst 1941 unter größten Verlusten den Feldzug Hitlers gegen die sich selbst regierenden Arbeiter:innen der Sowjetunion kurz vor Moskau stoppte. Und es war dieselbe Rote Armee, die dreieinhalb Jahre später im Jahr 1945 den gesamten Osten Nazi-Deutschlands und letztlich Berlin, die Hauptstadt des faschistischen Deutschlands, einnahm.

80 Jahre Winteroffensive der Roten Armee und der antifaschistische Befreiungskampf

Zum Verbot der Flagge der Sowjetunion

Begründet wird diese Maßnahme, wie bereits in den letzten Jahren, mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine vor drei Jahren. Die Flagge der Sowjetunion verherrliche, so die Logik der Berliner Polizei, ebenso wie die russische Flagge, das Kriegstreiben. Das Verbot folgt somit dem allgemeinen Schwenk, der in Deutschland in den letzten Jahren vollzogen wurde: Russland ist nicht mehr ein möglicher Partner des deutschen Imperialismus, sondern eindeutig der Feind. Europäische Werte und unsere Freiheit müssen dementsprechend gegen Russland verteidigt werden.

In diesem Zuge gilt immer wieder auch die Sowjetunion, mit ihrer Ausdehnung über weite Teile Osteuropas und Zentralasiens, als Vorgängerin des heutigen russischen Chauvinismus und Expansionswillen. Und das, obwohl die sozialistische UdSSR, für die die Rote Armee kämpfte, politisch und ideologisch rein gar nichts mit dem imperialistischen Russland von heute zu tun hat.

Die Rote Armee im deutschen Gedächtnis

Auffällig ist in diesem Zuge, dass sich auch die Erinnerung an die Leistungen der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg verändern. Rund um den 80. Jahrestag der Kapitulation der Faschisten häufen sich Beiträge in deutschen Zeitungen und Magazinen, die die Rolle der Roten Armee – entgegen den historischen Tatsachen – klar den Verdiensten der amerikanischen, britischen und französischen Armee unterordnen.

Die Rote Armee, so der Ton dieser Beiträge, war „Angreifer”, die Wehrmacht habe sich „verteidigt”. Teilweise werden die Soldaten der Roten Armee als plündernde, alkoholisierte Vergewaltiger dargestellt, während alleinig den Amerikanern zugeschrieben wird, die Konzentrationslager befreit zu haben. Diese Geschichten passen zur heutigen Bündnispolitik der BRD, doch mit den tatsächlichen historischen Entwicklung haben sie nichts zu tun. Eine weitere Verdrehung also.

Dabei soll gesagt sein: Ja, zweifellos haben Soldaten der Roten Armee Kriegsverbrechen begangen, zweifellos haben sie patriarchale Gewalt ausgeübt und es hat Vergewaltigungen gegeben. Dass diese schrecklichen Taten aber heute zum Teil nur den Soldaten der Roten Armee angelastet werden, ist Ausdruck der Einseitigkeit, mit der in die Geschichte geblickt wird.

Wenn heute die Rote Armee derart barbarisch und die Westalliierten als eigentliche Befreier des deutschen Volkes dargestellt werden, dann ist das eine durch und durch politisch motivierte Missachtung der Anstrengungen der Sowjetunion, die die Hauptkriegslast im Kampf gegen den Faschismus zu schultern hatte.

Wenn heute die Rote Armee als Angreiferin bezeichnet wird, ohne den vorhergehenden Überfall der Nazis auf die Sowjetunion – mitsamt der unzähligen Verbrechen der Faschisten – auch nur zu nennen, dann ist das nicht geschichtlich neutral, sondern eine Umkehr der historischen Tatsachen.

Die Sowjetunion war nicht angetreten, um Deutschland oder die Deutschen zu vernichten, wie Stalin 1942, als die Rote Armee die ersten großen Erfolge über die Wehrmacht erzielen konnte, eindeutig betonte: „Die Erfahrungen der Geschichte besagen, dass die Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk, der deutsche Staat bleibt.”

Umgekehrt waren die Faschisten an die Macht gekommen und hatten den Krieg begonnen mit dem erklärten Ziel, die Bolschewisten zu vernichten. Der Bolschewismus, also genau die Ideologie, die den Arbeiter:innen der Sowjetunion die Revolution gegen die Herrschaft des Zars und die Kapitalist:innen ermöglichte, war der erklärte politische Hauptfeind des deutschen Faschismus.

In der faschistischen Propaganda, allen voran den Reden Goebbels, erschienen die Bolschewisten immer wieder als Tiere, als Barbaren – und Stalin als „Blutsäufer”, der nichts anderes wolle, als das deutsche Volk auszurotten. Diese Sicht war unter den Deutschen weit verbreitet – und hält sich bis heute hartnäckig in den Gedächtnissen derer, die die Leistungen der Roten Armee als Verteidigerin des sozialistischen Aufbaus und Siegerin über den Faschismus ignorieren wollen. Ein bewusstes Vergessen also.

In diesem Sinne ist das Gedenken daher immer auch politisch und Ausdruck der aktuell herrschenden Ideologie. In Deutschland ist das aktuell der liberale, eurozentrische Kapitalismus – mit Russland geografisch sowie machtpolitisch und dem Kommunismus ideologisch als Feindbild.

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Das Märchen von der „freien Welt”

Tatsächlich verdrehen heute nicht nur Anhänger:innen des Nationalsozialismus die historischen Fakten. Die Darstellung von Stalin als blutrünstigem Diktator und menschenlebenverschleißendem Ungeheuer ist nach dem Kriegsende 1945 eine liberale Legende geworden. Diese hatte angesichts der neuen Kräfteverhältnisse in Europa den Zweck, eine klare Linie in der Verteidigung des Kapitalismus zu schaffen.

Gerade zu dieser Zeit nämlich fand der Sozialismus sowohl in Deutschland als auch in Europa viel Anerkennung. Die Beendigung des zweiten Weltkriegs und der Sieg der Roten Armee hatten den praktischen Beweis für die Macht des sozialistischen Aufbaus und des unbeugsamen Geistes der „Sowjetmenschen” erbracht. Nicht wenige Menschen fragten sich, warum am Kapitalismus, der den Faschismus ja erst hervorgebracht hatte, festgehalten werden sollte.

Mit der Gleichsetzung von Hitler und Stalin als blutrünstige Diktatoren zeigte die bürgerliche Ideologie zu dieser Zeit ihre Wandelbarkeit: Nicht der Kapitalismus mit seiner ausbeuterischen Produktionsweise und der immer notwendigeren Unterdrückung des Großteils der Bevölkerung sei die Ursache für Faschismus gewesen, sondern eine Art allgemeiner „Totalitarismus” wie ihn liberale Denker:innen von Hanna Arendt bis Zbigniew Brzeziński heute verklären.

Darin heißt es, eine Partei, einen starken Staat, eine verfolgte Ideologie und staatlich kontrollierte Wirtschaft – all das hätten das nationalsozialistische Deutschland und die Sowjetunion gemeinsam gehabt. Sich selbst und die westliche Herrschaft beschreiben sie im Gegensatz dazu als „frei”.

Which side are you on?

Dabei ist der Charakter des Sozialismus grundverschieden von dem des Faschismus. Natürlich gab es auch in der Sowjetunion eine starke Partei, einen starken Staat und eine kontrollierte Wirtschaft. Doch diese standen im Dienst der Mehrheit der Bevölkerung, der Arbeiter:innen und Bäuer:innen. War die Sowjetunion eine Diktatur, dann nur, um diejenigen niederzuhalten, die sich im Inland oder Ausland aus eigenen Interessen die kapitalistische Ausbeutung oder sogar die Zarenherrschaft zurückwünschten. Kriege wurden in erster Linie zu Verteidigungszwecken des sozialistischen Aufbaus geführt, in zweiter Linie zur Bekämpfung des Faschismus.

Im Faschismus, als Extremform kapitalistischer Herrschaft, verhält es sich genau umgekehrt: Hier bestimmen nur die Interessen einer verschwindend kleinen faschistisch-kapitalistischen Minderheit den Charakter der Partei, des Staates und der Wirtschaft. Es findet eine allgemeine, krasse Form der Ausbeutung statt und unterdrückt werden alle, die diese Verhältnisse stürzen wollen. Hier werden Kriege in erster Linie zu Expansionszwecken im Sinne der Ausweitung der Profite für die kapitalistische nationale Elite geführt.

Dass diese Sicht in der bürgerlichen Erinnerung keine Rolle spielt, ist klar. Denn sodann müsste ja zugegeben werden, dass der Kapitalismus für den Großteil der Menschen keinen Weg zur Freiheit bietet, auch nicht in seiner heutigen Form der liberalen Demokratie.

Sich am 8. Mai an die Niederlage der Faschisten und den Sieg der Roten Armee zu erinnern, muss aber – wenn man es historisch genau nimmt – genau das heißen: Sich zu vergegenwärtigen, dass die Rote Armee für die Verteidigung des Sozialismus, der Verteidigung der Selbstregierung der Arbeiter:innen der Sowjetunion und die Freiheit aller Menschen gekämpft hat. Führt man sich dies klar vor Augen, wird so manchem klar: Wofür die Rote Armee gekämpft hat, dafür lohnt es sich auch heute zu kämpfen.

Vor 80 Jahren verlor der Faschismus – und heute?

Mohannad Lamees
Mohannad Lamees
Seit 2022 bei Perspektive Online, Teil der Print-Redaktion. Schwerpunkte sind bürgerliche Doppelmoral sowie Klassenkämpfe in Deutschland und auf der ganzen Welt. Liebt Spaziergänge an der Elbe.

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