Nach mehrjähriger Vorbereitung hat diese Woche die neue Außenstelle der Leipziger Polizei an der Eisenbahnstraße ihre Tore für die Öffentlichkeit geöffnet. Weshalb gerade jetzt auf eine Wache mitten im Kiez gesetzt wird, welche Probleme die Bewohner:innen der „kriminellsten Straße Deutschlands“ wirklich bedrücken und warum der Staat immer direktere Mittel der Repression einsetzt. – Ein Kommentar von David Henschel.
Über zwei Jahre haben die Vorbereitungen angedauert – am vergangenen Mittwoch war es dann endlich soweit: Die Polizeidirektion Leipzig enthüllt festlich ihren neuesten Außenposten in der Eisenbahnstraße 84, der „Eisi“. Verteilt werden vor allem kleinere Dinge, um Kinder in die neu eröffnete Wache zu locken: von Polizeifähnchen über kleine Pappautos bis hin zu Comic-Heften, welche die Gefahren linker Radikalisierung thematisieren sollen.
Auf der anderen Straßenseite versammeln sich rund 100 Personen, um gegen den geplanten Stützpunkt zu protestieren. Unter ihnen auch viele Anwohner:innen, welche die Auswirkungen erhöhter Polizeipräsenz im Viertel bereits kennen und den verlängerten Arm des Staats nicht ohne Gegenwehr in ihren Kiez einkehren lassen wollen.
Die „Eisi“: brandgefährlich und außer Kontrolle?
Die Eisenbahnstraße, in den Massenmedien oft als „die gefährlichste Straße Deutschlands“ betitelt, fand ihren Anfang als typisches Arbeiter:innenviertel der Bahnangestellten in Leipzig. Auch zu Wendezeiten war der Wohnraum hier enorm billig, und weitreichender Leerstand führte zum Verfall vieler Häuser und Geschäfte. Infolgedessen bezogen vor allem Migrant:innen die sehr einfachen, zum Teil verwahrlosten Wohnungen, und das Viertel geriet immer mehr ins Fadenkreuz von konservativen und reaktionären Kräften.
Bis heute eilt dem Kiez der Ruf als Brennpunkt der Leipziger Drogen- und Bandenkriminalität voraus. Das sächsische Innenministerium möchte nun Schluss damit machen: Nach Einführung einer Waffenverbotszone im Jahr 2018, 24/7-Kameraüberwachung und Streifenfahrten im Minutentakt soll jetzt durch Schaffung eines Stützpunktes der Leipziger Polizei ein für alle Mal Ruhe in der vielbelebten Straße einkehren.
Leipziger Eisenbahnstraße – Die Polizei bringt uns keine Sicherheit!
Die Eröffnung der neuen Wache verschob sich dabei aus verschiedenen Gründen immer wieder – in Planung war sie seit mindestens März 2023. Durch Streitigkeiten mit dem Inhaber des Gebäudes verzögerte sich allein die Anmietung der Räumlichkeiten bis Mai 2024. Seitdem wurden Mittel in Höhe von 966.000 Euro für die Umsetzung des Projekts ausgegeben. Auch das erhöhte Sicherheitsrisiko am geplanten Standort scheint ein Hindernis gewesen zu sein. So verstrich zwischen Anmietung und Eröffnung noch einmal über ein Jahr.
Immer wieder ließen Bewohner:innen des Viertels ihre Wut an der geplanten Wache aus – sei es in Form von Steinschlägen, Graffiti- oder Plakataktionen. So ist davon auszugehen, dass zum geplanten Budget noch eine Vielzahl an Reparaturkosten hinzu gerechnet werden müssen. Doch warum hält die Polizei so stark an der geplanten Wache fest, was sind die Wirkungsbereiche der dort eingesetzten Beamt:innen und welches langfristige Ziel wird verfolgt?
Innere Aufrüstung: Für „unsere Sicherheit“?
Schenkt man dem neuen Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) Gehör, so zeichnet sich eine neue Strategie der staatlichen Repression ab: Im Mai kündigte er eine sogenannte „Sicherheitsoffensive“ an, die noch mehr Kompetenzen für Staat und Polizei sowie höhere Strafen für Kriminelle vorsieht. Der neugeschaffene Außenposten kann dabei als ein Ausdruck dieser Sicherheitsoffensive betrachtet werden.
Unwahrscheinlich, dass Problemen wie Drogenkriminalität, Wohnungslosigkeit oder soziale Ungerechtigkeit durch mehr bewaffnete Ordnungshüter vorgebeugt wird. Dafür wird die Kriminalstatistik im bereits vorbelasteten Kiez aber vermutlich fleißig gefüttert. Ein vergleichbares Projekt der Berliner Polizei am Kottbusser Tor hat in seinem rund zweijährigen Bestehen zu keinerlei Rückgang der besagten Missstände geführt. Der Ort zeigt nach wie vor die zugespitzten sozialen Gegensätze der modernen Metropole.
Zwischen zahllosen Obdachlosen wimmeln wohlhabende Studierende von einer Party zur nächsten. Zusätzlich schleifen Polizist:innen in regelmäßigen Abständen Straßendealer in die Wache und schreiben Strafanzeige nach Strafanzeige. Dass so keines der benannten Probleme beseitigt, sondern maximal die Präsenz der Staatsmacht im Viertel bekräftigt wird, sollte dabei längst klar geworden sein. Denn sogenannte Brennpunkte wie das Kottbusser Tor oder die Eisenbahnstraße haben ihren Ursprung oftmals in aktiver Vernachlässigung und Ausbeutung der Anwohner:innen.
Richtungsweisend dafür war beispielsweise die Privatisierung des Wohnungsmarkts durch Großinvestitionen westdeutscher Unternehmer:innen kurz nach der Wende. Heute führt das entfremdete Wohneigentum bei enormem Bevölkerungszuwachs zu einer Explosion der Mietpreise. So wird sogar das Wohnen im Kiez zu einem Privileg und selbst alteingesessene Bewohner:innen müssen ihre eigenen vier Wände aufgeben und werden noch weiter an den Stadtrand oder in die Wohnungslosigkeit getrieben.
Auch auf der Suche nach Maßnahmen zur Drogen- und Suchtprävention wird man an der Eisenbahnstraße maximal dürftigen Erfolg haben: Die wenigen Angebote und Organisationen, die es gibt, sind maßlos überfordert und können keine nachhaltige Arbeit mit Bedürftigen durchführen. Dass der Staat hier keine oder viel zu wenige Mittel für Prävention und Sozialarbeit in die Hand nimmt, erklärt den stetigen Anstieg der Drogenkriminalität und die Anzahl an Suchtbetroffenen. Viel lieber setzt das staatliche Gewaltmonopol den Fokus auf Repression und kriminalisiert Armutsbetroffene, um die Vorstellung der Eisenbahnstraße als Brennpunktviertel mit selbstgemachten Statistiken zu untermauern.
Anzeigen, Kontrollen, Razzien – alles für die Statistik
Dieses Vorgehen ist keine neue Erfindung oder Masche: Kriminalstatistiken wie die der Eisenbahnstraße werden schon seit langer Zeit durch hochfrequentierte Personenkontrollen auf einem überdurchschnittlichen Stand gehalten. Nun verleiht die Wache auf der Eisenbahnstraße dieser repressiven Methodik eine neue Qualität: Sie öffnet Tür und Tor für noch mehr Überwachung, noch mehr rassistische Personenkontrollen und noch mehr mediale Aufmerksamkeit für einen Kiez, der vor allem nach sozialen Auffangnetzen, Präventionsangeboten und Entwicklungshilfe schreit.
Denn die Kriminalität an der Eisenbahnstraße geht vor allem aus den sozioökonomischen Umständen der Anwohner:innen hervor: Migrant:innen, die monatelang auf ihre Arbeitserlaubnis warten und aus ihrer Not heraus für Niedriglohn schwarzarbeiten. Obdachlose, die nachts in Treppenhäuser einbrechen, um dort einen trockenen Schlafplatz zu haben. Armutsbetroffene Familien, deren letzte Lösung es ist, am Ende des Monats Lebensmittel zu klauen, um nicht hungern zu müssen … All diese traurigen Realitäten fanden bei der gestrigen Eröffnung der neuen Polizeiwache kein Gehör.
Neues Berliner Polizeigesetz bringt mehr Überwachung und Kontrolle
Ganz im Gegenteil: Supermarkt- und Späti-Besitzer:innen werden aktiv von den Polizist:innen angesprochen und äußern sich zunehmend positiv über den neuen Außenposten. Sie seien es, die von Diebstählen und Einbrüchen besonders schwer betroffen sind, und ihnen soll durch mehr staatliche Präsenz ein Gefühl von Sicherheit vermittelt werden. Dass drei zusätzliche Polizeibeamt:innen auf der knapp 1,5 km langen Straße vorhersehbar keinen präventiven Mehrwert bieten, wird dabei natürlich verschwiegen. Es ist und bleibt nun einmal Fakt, dass Diebstähle nicht abnehmen werden, solange Menschen hungern müssen.
Dafür müsste es viel mehr Essensausgaben in der Nachbarschaft geben, denn die Schlange bei der nächstgelegenen Tafel wird von Tag zu Tag länger. Einbrüche können nicht verhindert werden, solange es nicht hinreichend viele Notunterkünfte für Menschen ohne Eigenheim gibt. Und der Schwarzarbeit kann nur durch nachhaltige, durchdachte Integration in den Arbeitsmarkt vorgebeugt werden. All diese Ansätze, die zur Lösung von den real existierenden Problemen der hier lebenden Menschen führen könnten, bräuchten aber spürbare und langfristige Investitionen (personell wie finanziell) in den sozialen Bereich – Mittel, die in Zeiten von Krieg und Krise zurückgehalten werden und stattdessen in die Ausweitung des staatlichen Gewaltmonopols fließen.
Gegen Spaltung – für den Zusammenhalt im Viertel!
Es ist ernüchternd mit anzusehen, wie Migrant:innen ohne gültige Arbeitserlaubnis von ebenfalls migrantischen Ladenbesitzer:innen unter Generalverdacht gestellt werden. Die Polizei schürt stattdessen weiter Angst und versucht aktiv, den sozial schwächsten Teil der Eisenbahnstraße noch weiter vom Rest des Viertels zu isolieren. Sie hütet weder die Ordnung, noch wirkt sie präventiv gegen Kriminalität.
Die Hauptaufgabe des neuen Reviers scheint eher darin zu bestehen, die bereits von vielen Widersprüchen gezeichnete Eisenbahnstraße noch weiter zu spalten. Ein solidarischer Zusammenschluss der hier lebenden Menschen soll verhindert werden, denn wenn sich die Wut der vernachlässigten Bevölkerungsteile kanalisiert, dann ist es die Polizei, die als verlängerter Arm der staatlichen Gewalt den Frust der Anwohner:innen auf sich zieht. Dabei sind sie es, welche die Besitzverhältnisse und Ungleichheit im Kiez helfen, aufrecht zu erhalten, und sie werden alles dafür tun, von dieser Funktion abzulenken.
Doch auf ewig lassen sich ihre Lügen nicht verschleiern. Schon jetzt zeigt sich, dass immer mehr Vereine rund um die Eisenbahnstraße ihre Türen öffnen und auf offenen Dialog und ein solidarisches Zusammenleben pochen. Ganz ohne staatliche Hilfe schließen sich dort Urgesteine mit Zugezogenen, Arbeiter:innen, Student:innen, Rentner:innen und Migrant:innen jeglicher Herkunft zusammen, um an einer „Eisi“ für alle Altersgruppen, alle Nationalitäten und alle sozialen Hintergründe mitzuwirken. – Und für eine neue Polizeiwache ist in deren Vorstellung ganz sicher kein Platz.