Wenn Politiker:innen von Verantwortung sprechen, soll die Jugend der Arbeiter:innenklasse an die Front. Disarstar antwortet mit einer flammenden Absage an ein System, das Verzicht von denen fordert, die es am meisten ausbeutet. Doch es braucht mehr als eine Fluchtfantasie. – Ein Kommentar von Marius Fiori.
Die Rückkehr der Wehrpflichtdebatte unter der Ampel- und der neuen CDU/SPD-Regierung hat bisher höchstens kleine Proteste ausgelöst. Doch inmitten dieser politischen Großwetterlage legt der Hamburger Rapper Disarstar mit „Meine Söhne geb’ ich nicht“ einen Soundtrack des Widerstands vor. Der Song greift bewusst den Titel von Reinhard Meys pazifistischem Antikriegsklassiker auf.
Für keine Bonzen sterben
Disarstars Text entfaltet dagegen eine schonungslose Analyse der sozialen Verhältnisse, die in der aktuellen Wehrpflichtdebatte meist ausgeblendet werden. „Die Kriegstreiber bei Lanz sieht man höchstens für die Presse an Fronten/ Demokratie heißt für die: im Interesse der Bonzen“ – diese Zeilen entlarven die Klasseninteressen hinter der scheinbar sachlichen Diskussion über die „Verteidigungsfähigkeit“ der Nation.
Während in Talkshows und Leitartikeln der großen Medienhäuser über „Verantwortung“ und „nationale Sicherheit“ gesprochen wird, macht der Rapper deutlich, dass es den Herrschenden nie um das Wohl der Allgemeinheit geht, sondern um die Absicherung ihrer Privilegien und Profite.
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Wehrpflichtrhetorik vs. Klassenrealität
Besonders eindrücklich wird diese Klassenperspektive in den Versen über die Lebensrealität in Hamburgs Arbeiter:innenvierteln: „Hier ist Hamburg, aber nächste Straßenecke ist Compton/ Für euch möge es Spucke regnen/ Mindestlohn oder Bürgergeld, FUNK verkauft uns das als Luxusleben“
Disarstar zieht hier eine direkte Linie von seiner eigenen Lebensrealität bzw. der seiner Mitmenschen zur Wehrpflichtdebatte. Wer den Menschen kaum ein würdiges Leben ermöglicht, kann nicht erwarten, dass sie bereitwillig für das dafür verantwortliche System in den Krieg ziehen.
Die bittere Ironie in „Frag’ mich, was ein Leben wert ist/ Die sitzen in Palästen und dann reden sie von Wehrpflicht“ trifft den Kern der Heuchelei: Dieselben Politiker:innen und Meinungsmacher:innen, die Sozialleistungen kürzen und Löhne drücken, fordern plötzlich „Opferbereitschaft“ von denen, die sie sonst ignorieren.
„Mi casa es tu casa“
Interessant ist dabei die Ambivalenz im Song: Einerseits die radikale Ablehnung jeder Vaterlandsideologie („Würden nie sterben für ein Land, das uns so leben lässt“), andererseits die starke Betonung lokaler Solidarität („Erichstraße, hier hat keiner ein Haus/ Aber mi casa es tu casa, meld dich, falls du was brauchst“). Das ist aber kein Widerspruch, sondern ein zentrales Merkmal fortschrittlicher Politik.
Disarstars Verweise auf nachbarschaftliche Hilfe („mi casa es tu casa“ / dt. „Mein Haus ist dein Haus“) zeigen: In einer Welt, die von Entfremdung und Vereinzelung geprägt ist, wird die konkrete Praxis der Solidarität zum politischen Akt. Während der Kapitalismus Menschen in konkurrierende Einzelinteressen zerteilt, schafft gemeinschaftliche Unterstützung in der Erichstraße oder anderen Arbeiter:innenvierteln einen Gegenpol. Diese Vereinzelung zu durchbrechen, schafft die Grundlage für die Entfaltung von Kämpfen gegen genau dieses System.
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Gleichzeitig entlarvt diese Perspektive die Heuchelei staatlicher „Fürsorge“. Wo der Sozialstaat systematisch abgebaut wird, wird Solidarität zur Überlebensfrage. Wenn Disarstar rappt: „Armut ist auch Armut dann, wenn andere noch ärmer sind“, macht er klar: Echte Veränderung beginnt nicht mit Appellen an die Macht, sondern mit der Organisierung von unten.
Fluchtfantasie oder Widerstand?
Die Schlusszeilen des Songs machen dann aber einen neuen Widerspruch auf: „Ich würde, wenn ich könnte, mit ihm fliehen/Still und heimlich so wie Räuber in der Nacht/Heimatlos, kein’ Vaterland mehr dienen“. Diese Fluchtfantasie wirkt vielleicht einerseits befreiend. Vor allem zeigt sie aber eine Resignation.
Denn während für (besserverdienende) Künstler:innen wie Disarstar die Option der Emigration vielleicht realistisch ist, bleibt sie für die meisten Jugendlichen aus der Arbeiter:innenklasse eine leere Metapher. Die provokante Schlusszeile „Ich würd nicht mal mein’n Köter geben, Digga“ unterstreicht zwar die kompromisslose Haltung, wirkt aber auch wie eine Übersprungshandlung angesichts der strukturellen Machtverhältnisse.
Genau hier liegt die Stärke, aber auch die Grenze des Songs: Disarstar gelingt es sehr gut, die Absurdität und Ungerechtigkeit der Wehrpflichtdebatte aus proletarischer Perspektive darzustellen. Doch die Antworten bleiben individuell – ob Fluchtfantasie oder trotzige Verweigerung. Was fehlt, ist der Aufruf zu kollektivem Widerstand, zur organisierten Kriegsdienstverweigerung. Es braucht Initiativen wie Nein zur Wehrpflicht, die sich genau das als Ziel setzen.
Dennoch: In einer Zeit, in der die herrschende Klasse die Jugend wieder als Kanonenfutter rekrutieren will, ist „Meine Söhne geb’ ich nicht“ ein wichtiges kulturelles Gegengift. Der Song erinnert daran, dass wahre Solidarität nicht national, sondern international ist – und dass niemand verpflichtet ist, für ein System zu sterben, das ihn verachtet.
Die eigentliche Frage ist nun, wie sich diese Haltung von der individuellen Verweigerung zum organisierten Massenprotest entwickeln kann. Denn eines macht Disarstar unmissverständlich klar: Die Klasse, die den Reichtum schafft hat keinen Grund die Kriege der Reichen zu führen.