Nach dem Champions League-Finale ist es in Frankreich zu spontanen Aufständen gekommen. Die Regierung reagierte zuverlässig mit Hetze und enthüllt zugleich ihre Unfähigkeit, die sozialen Gegensätze in der Gesellschaft zuzukleistern. – Ein Kommentar von Paul Gerber.
Zwei Nächte in Folge ist es in mehreren französischen Städten nach dem Champions League-Finalsieg des Pariser Clubs PSG zu Aufständen und Plünderungen gekommen. In der Nacht von Samstag auf Sonntag gab es landesweit 563 Festnahmen, überwiegend in Paris. Auch am folgenden Abend kam es laut Zeitungsmeldungen zu etwa 80 Festnahmen in der Hauptstadt.
Dutzende Fahrzeuge wurden in Brand gesteckt und Geschäfte insbesondere an der Pariser Prachtmeile Champs-Élysées geplündert. Der Pariser Polizeichef sprach von mehreren tausend Randalierenden. Auch werden der Tod eines erstochenen Jugendlichen und ein bei einem Verkehrsunfall getöteter junger Mann in Verbindung mit den massenhaften Feierlichkeiten gebracht.
Regelmäßige Aufstände und rassistische Hetze
Die Reaktionen der französischen Politik und eines Großteils der Presse haben die Teilnehmer:innen an diesen Gewaltausbrüchen – wie zu erwarten war – als Fremdkörper in der französischen Gesellschaft eingeordnet und ihnen die volle Härte des Gesetzes angedroht. Besonders hervor tat sich hier der französische Innenminister Bruno Retailleau, der versuchte, die randalierenden „Barbaren“ gegen „echte Fußballfans“ auszuspielen.
Bis hierhin gleichen die Reaktionen auf den ersten Blick denen deutscher Politiker:innen beispielsweise nach Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und der Polizei in der Silvesternacht, am 1. Mai in Berlin oder vor einigen Jahren während der Corona-Pandemie.
Doch die Krawalle spielen in Frankreich eine andere Rolle als in Deutschland: sie erfassen regelmäßig das ganze Land und größere Teile der Jugend. Ihr sozialer Charakter wird im aktuellen Fall unter anderem daran deutlich, dass allem Anschein nach ärmere Teile der Jugend den Stolz der französischen Nation und ein Machtsymbol ihrer herrschenden Klasse, nämlich die Champs Élysées als Ort für ihren Wutausbruch wählen. Zugleich wurde dabei eine Filiale des Schuhgeschäfts Footlocker geplündert und vermutlich um zahlreiche überteuerte Markenschuhe erleichtert.
Dennoch scheinen die französischen Unterdrückungsorgane bei diesen Unruhen – die sich aus dem Rahmen der Fußballfeierlichkeiten entwickelt haben – noch relativ glimpflich davongekommen zu sein. Erst vor zwei Jahren wurden nahezu alle Großstädte von mehrtägigen Jugendaufständen erfasst, nachdem ein Polizist den 17-jährigen Nahel erschossen hatte. In der Folge wurden nächtelang nicht nur Geschäfte, sondern auch Polizeistationen und sogar Gefängnisse angegriffen, ebenso in Einzelfällen die privaten Wohnsitze von Politiker:innen.
Gegen die rechte Hetze: Warum die Proteste in Frankreich unsere Unterstützung verdienen
Dem Staatsapparat in Frankreich ist seit Jahren bewusst, dass die soziale Spaltung und die Perspektivlosigkeit von Teilen der Jugend eine so krasse Qualität angenommen haben, dass sie sich immer wieder in zwar spontaner, aber doch klar gegen diesen Staat gerichteter Gewalt entlädt.
Französischer Staat nimmt Aufstände als Anlass für mehr Repressionen
Bemerkenswert ist, dass im Umgang damit offenbar die Integrations- und Beschwichtigungsversuche immer mehr an den Rand geschoben werden, während unverhüllte Gewalt und Unterdrückung in den Vordergrund treten. So bemühte sich der französische Präsident Emmanuel Macron vor zwei Jahren noch öffentlich um „Verständnis für die Wut über den Polizeimord“.
Zwei Jahre später hat sich der Wind deutlich gedreht, doch die Aufstände in den Vororten der französischen Großstädte haben ihre Spuren hinterlassen. Macrons politischer Ziehsohn und ehemaliger französischer Premierminister Gabriel Attal etwa hat ein Gesetzesvorhaben vorangetrieben, das momentan die Legislative in Frankreich durchläuft und vorsieht, das Jugendstrafrecht in Frankreich massiv zu verschärfen.
Das Gesetz beabsichtigt unter anderem, dass auch 16- bis 18-jährige Jugendliche unmittelbar Richter:innen vorgeführt und durch diese verurteilt werden können. Ebenso soll bei der Festsetzung des Strafmaßes das Jugendstrafrecht für 16- bis 18-Jährige regelmäßig nicht mehr angewendet werden. Anders als bisher müssen Richter:innen begründen, warum sie das in Ausnahmefällen für notwendig halten.
Weiterhin sollen Jugendliche ab 13 Jahren vereinfacht in gefängnisartige staatliche Bildungsanstalten eingewiesen und Eltern mit bis zu 7.500 Euro für durch ihre Kinder verursachte Schäden haftbar gemacht werden können.
Justizminister Gérald Darmanin stimmt nun nach den jüngsten Aufständen in diese Rhetorik ein und verlangt eine „radikale Gesetzesreform“. Unter anderem fordert er den Grundsatz aufzuheben, nach dem Richter:innen verpflichtet sind, bei nur geringen Haftstrafen nach alternativen Strafformen zu suchen und bei Angriffen auf Staatsdiener:innen eine Mindesthaftstrafe von 3 Monaten verbindlich festzulegen.
Knüppel statt Gerechtigkeit
Oberflächlich betrachtet gleicht das den Gesetzesverschärfungen in Deutschland aus den letzten Jahren. Bisher jedoch finden sie hierzulande vorrangig gegen linke und revolutionäre Aktivist:innen Anwendung und schränken in vielen Fällen in der Folge auch das Versammlungsrecht ein.
Dass in Frankreich hingegen der Staat mehr oder weniger offen eingesteht, himmelschreiende soziale Ungerechtigkeit und die daraus entstehende Wut unter hunderttausenden Jugendlichen nicht mehr mit sozialen Reformen kaschieren zu wollen, sondern stattdessen das Wegsperren von 13-Jährigen, die ihrer Wut auf den Straßen freien Lauf lassen, auf die Tagesordnung setzt, zeigt ein enorm explosives Potential in der französischen Gesellschaft.
Es bleibt nur zu wünschen, dass es der sozialistischen Bewegung in Frankreich möglichst bald gelingt, dieses Potenzial aufzunehmen, zu politisieren und zu kanalisieren.