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Nie wieder Mückenplage? – Insektensterben erreicht neuen Höhepunkt

Neue Studien aus Deutschland, Costa Rica und Großbritannien zeigen bisher unbekannte Ausmaße des Artensterbens. Mit Stechmücken müssen sich die Menschen aber umso mehr herumschlagen. Umweltverbände kritisieren derweil die völlig unzureichenden Klimaschutzmaßnahmen der neuen Regierung.

Während die Menschen in Deutschland das heiße Wetter genießen, bleibt so mancher ungeliebte Gast der Gartenparty häufig fern: das Insektensterben ist noch deutlich gravierender als zuvor angenommen.

Das zeigen neue Studien, die in den letzten Monaten veröffentlicht wurden. Dabei fällt an mehreren Stellen auf, dass das Ausmaß bisher stark unterschätzt wurde: Eine Studie aus Großbritannien hat nicht nur einen Rückgang von 63 Prozent zwischen 2021 bis 2024 gemessen, sie weist sogar einen Kollaps von insgesamt 80 Prozent ausgestorbener Insekten in den vergangenen zwanzig Jahren nach.

Nur noch jeder fünfte Baum in Deutschland gesund

Insektensterben nicht auf seltene Spezies beschränkt

Ein großer Unterschied, den neue Studien zu den bisherigen aufweisen, ist dabei die Bandbreite und die Erforschung in verschiedenen Situationen. So ermöglicht seit Neuestem die Methode des DNA-Metabarcoding das Erfassen vieler verschiedener Insekten in einer Probe gleichzeitig. Außerdem wurden Studiendaten in naturnahen Lebensräumen erhoben, die schwerer zu erforschen sind.

Diese beiden Methoden sorgen dafür, dass man ein neues Verständnis über den Rückgang der Artenvielfalt, speziell den Rückgang einzelner Arten entwickeln konnte. Während man lange davon ausging, dass seltene Arten stärker betroffen sind, ist der Rückgang bei allen Arten ähnlich dramatisch: zum Beispiel in Dürrephasen bei trockenheitsresistenteren Arten oder selbst in geschützten Räumen, in denen sich die Population trotzdem nicht erholt.

In einer Studie, die Langzeitdaten aus den Jahren 1963 – 1967, 2008 – 2010 und 2018 – 2020 aus Schutzgebieten analysierte, wurden z.B. Zikaden in Trockenrasen untersucht, mit dem Ergebnis, dass diese am stärksten unter der Dürre im Jahr 2018 litten. Zikaden seien dabei besonders repräsentativ für eine Reihe von Insekten, vor allem pflanzenfressender Art. Deren Population litt ganz logisch unter der Dürre, welche ihre Pflanzennahrung dahinraffte. Sogar Maßnahmen in den geschützten Gebieten reichten nicht aus, um ihren Rückgang zu stoppen.

Katastrophale Ergebnisse selbst in entlegensten Schutzgebieten

Als seien die Daten aus den deutschen Schutzgebieten nicht ernüchternd genug, erschrecken hier auch Studien aus Costa Rica, Puerto Rico und Panama: Weitaus entlegener und fernab von allen Pestiziden und Stressoren wurde hier seit den siebziger Jahren geforscht.

Trotz dieser wesentlich anderen Bedingungen stellt der Ökologie-Forscher Daniel H. Janzen einen dramatischen Zusammenbruch fest: Er dokumentierte hier einen Verlust von 90 Prozent der Nachtfalter – und das mitten im Regenwald. Selbst dort gehen die Populationen dramatisch zurück und deuten darauf hin, dass punktuelle Schutzmaßnahmen keine Abhilfe beim Erhalt der Artenvielfalt und der Umwelt leisten können.

Ein anderer Indikator für den Rückgang der Insektenpopulationen ist das Messen der Anzahl von insektenfressenden Vögeln. So stellte man in einem intakten Wald in Panama z.B. einen Rückgang von 70 Prozent der Insektenarten fest, von denen 88 Prozent mindestens ihre halbe Population verloren hatten.

Genauso konnte auch in Puerto Rico ein dramatischer Rückgang schon seit dem Jahr 2018 festgestellt werden, bei dem ebenfalls der direkte Zusammenhang zwischen dem Aussterben von Insekten und der Überzahl ihrer Fressfeinde hergestellt wurde.

Besonders belastbare Studie durch ungewöhnliche Methodik

Ein innovativer Forschungsansatz hat jedoch nun aus Großbritannien auf sich aufmerksam gemacht: Per PKW-Kennzeichen messen seit dem Jahr 2021 tausende Briten, wie vielen Insekten sie auf fatale Weise beim Autofahren begegneten: So konnten insgesamt 25.000 „Messfahrten“ aufgenommen werden, was eine sehr große Stichprobe darstellt. Das Ergebnis: 63 Prozent Verlust an Insekten innerhalb von drei Jahren.

Stechmücken trotzen dem Klimawandel

Stechmücken scheinen von diesem Rückgang jedoch weit weniger betroffen zu sein. Im Gegenteil steigt ihre Population besonders in städtischen Gebieten. Viele der bekannten Arten – insbesondere jene, die Krankheiten wie Dengue oder Malaria übertragen – sind besonders anpassungsfähig. Sie entwickeln Resistenzen gegen Insektizide und leben erfolgreich in städtischen Lebensräumen.

Allerdings ist nicht auszuschließen, dass auch einige Mückenarten bedroht sind. Dazu zählen vor allem jene, die auf bestimmte Tiere als Wirt spezialisiert sind oder in empfindlichen Lebensräumen leben und auf diese angewiesen sind. Solche spezialisierten Arten sind jedoch wenig erforscht und werden von gängigen Überwachungs- oder Forschungsprogrammen kaum erfasst.

Viele Mücken profitieren sogar von Bedingungen, die anderen Insekten schaden. In Australien wurde beispielsweise festgestellt, dass Stechmücken in Mangrovenwäldern häufiger vorkommen, wenn diese geschädigt oder von Industrie umgeben sind.

Politische Antwort bleibt aus

Anders als die Wissenschaft braucht die Politik noch Bedenkzeit, um hier zu konsequenten Schlüssen und Gegenmaßnahmen zu kommen – oder sie fährt gleich in die entgegengesetzte Richtung wie derzeit die neue Regierung. Mit den von der neuen Koalition geplanten Maßnahmen ist laut dem Vorsitzenden des Bundes für Umwelt- und Naturschutz Deutschland (BUND) „in vielen Bereichen ein Rückschlag zu befürchten“.

„Die neue Koalition will die Marktkräfte entfesseln, die in den letzten Jahrzehnten Klima und Natur zerstört haben. Sie plant, in nie dagewesenem Umfang Gelder zu verteilen, aber verliert dabei Effizienz und Klimagerechtigkeit in vielen Bereichen aus dem Blick“, kritisiert der Greenpeace-Vorsitzende Martin Kaiser.

Gutachten: Klimaschutz Deutschlands „zu langsam“ und kann „nicht ausreichen“

Sowohl das Heizungsgesetz will die neue GroKo abschaffen, als auch die Dieselsubventionen für die Landwirtschaft wieder hochfahren. Gleichzeitig werden Umweltthemen auf viele Ressorts verteilt und zersplittert, was ein abgestimmtes Durchgreifen oder Vorankommen beinahe unmöglich macht.

Die grundsätzliche Zuständigkeit für Klimapolitik soll – nach einer Aufteilung in letzten Legislaturperiode – wieder zurück ans Umweltministerium gehen. Hier zeichnet sich jedoch ein ähnliches fatales Vorgehen wie Anfang der 2010er Jahre beim Thema der Photovoltaik ab: Damals hatte die „EEG-Fallbeilnovelle“ von Schwarz-Gelb die Förderungen durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) gekürzt, die zuvor den Aufstieg der Photovoltaik- und Solarbranche überhaupt erst möglich gemacht hatten.

Doch auch die konkrete Besetzung des Umweltministeriums – das sowieso schon niemand in den Koalitionsverhandlungen haben wollte – ist ein eindeutiges Signal: Der neue Bundesminister für Umwelt, Klimaschutz, Naturschutz und nukleare Sicherheit, Carsten Schneider, hat keinerlei Erfahrung in der Umweltpolitik. Nach seiner Ausbildung zum Bankkaufmann wurde der SPD-Politiker durch verschiedenste Ausschüsse und Ministerien gereicht.

All diese Signale und Beschlüsse dürften den einen oder die andere Lobbyist:in oder Agrarbosse freuen – ebenso wie vermutlich die Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU), die zuletzt als Agrarministerin in erster Reihe für das Insektensterben verantwortlich gemacht werden kann.

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