Zeitung für Solidarität und Widerstand

Plötzlich sind alle gegen den Genozid?

In Deutschland scheint es ein kleines Erwachen zu geben – vielen Prominenten und Politiker:innen fällt auf, dass sie etwas gegen Israels vorgehen im Gaza-Krieg haben. Was es damit auf sich hat und warum wir den 7. Oktober nicht vergessen dürfen. – Ein Kommentar von Alex Lehmann.

21 Monate nach dem 7. Oktober – die Lage im Gazastreifen ist katastrophal. Das israelische Militär hat eine zweite Bodenoffensive gestartet und große Teile des Gebiets eingenommen. Hunderttausende wurden vertrieben oder getötet, die restliche Bevölkerung droht zu verhungern.

Ende Mai dann die Meldung des Vorsitzenden der UN-Hilfsorganisationen Tom Fletscher: Etwa 14 tausend Babys und Kleinkinder sind akut vom Hungertod bedroht. Schließlich wird der internationale Druck auf die israelische Regierung so groß, dass sie mit Unterstützung der USA Zentren zur Verteilung von Hilfsgütern errichten und diese wieder, wenn auch beschränkt, ins Land lassen.

„Hilfszentren“, die seit dem für viele zur Todesfalle geworden sind. Schon über 100 Menschen sind es, die beim Versuch etwas zu Essen für sich und ihre Familien zu bekommen vom israelischen Militär niedergeschossen wurden oder in dem darauffolgenden Chaos umgekommen sind. Denn wer zuerst an die Lieferungen in den Hilfszentren kommt, der darf sie auch behalten.

Das wäre erst mal kein Problem, wenn die israelische Regierung die Hilfslieferungen nicht so stark beschränken würde, dass immer noch zehntausende hungern müssen. So entstehen bei der „Verteilung“ der Hilfsgüter schnell unübersichtliche Situationen und wer sich den Zentren nicht auf den dafür vorgesehenen Wegen nähert, wird erschossen.

Neima al-Araj, die beim letzten dieser Massaker selbst nur knapp den israelischen Kugeln entging, sagte gegenüber Al Jazeera, sie werde nicht zu den Hilfszentren zurückkehren, so oder so wird sie sterben. Es sind Szenen, die niemanden der noch einen Funken Mitgefühl und Menschlichkeit in sich hat kaltlassen. Und tatsächlich scheint sich auch in Deutschland, dem zweitwichtigsten Waffenlieferanten Israels, etwas zu tun.

Stimmung in der Bevölkerung wandelt sich

In einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstitut infratest dimap für den ARD-Deutschlandtrend, gaben 63 Prozent der Befragten an, dass ihnen die militärische Reaktion Israels zu weit geht. 73 Prozent der Befragten finden, dass es nicht gerechtfertigt ist, dass Zivilist:innen von israelischen Militäroperationen betroffen sind.

Sogar Kanzler Merz äußerte sich in der vergangenen Woche im WDR Europaforum vorsichtig kritisch gegenüber dem militärischen Vorgehen Israels beklagt, dass die Zivilbevölkerung zu stark in „Mitleidenschaft“ genommen wird. Laut Umfrage, sehen drei von vier Deutschen dass genau so.

Als Reaktion auf Merz Kritik kündigte der Außenminister Joachim Wadephul (CDU) an, die Waffenlieferungen an Israel „überprüfen“ zu wollen. 43 Prozent der Befragten sprachen sich in der Umfrage für den ARD-Deutschlandtrend dafür aus die Waffenlieferungen zu begrenzen, 30 weitere Prozent wollen, dass sie komplett gestoppt werden.

Wadephuls Antrittsbesuch in Israel: Weiter deutsche Unterstützung für Genozid

Offener Brief an die Bundesregierung

Parallel dazu haben 60 deutsche Prominente zusammen mit Amnesty Deutschland einen offenen Brief an die Bundesregierung unterzeichnet, in dem zwar nicht vom aktuell stattfinden Genozid die Rede ist, aber in dem immerhin ein Ende der Waffenlieferungen und des Krieges, sowie der unbeschränkte Zugang zu humanitärer Hilfe für die Bevölkerung Gazas gefordert wird.

Initiator des Briefes ist der Aktivist Said Etris Hashemi. Unterzeichnet haben ihn unter anderem Enissa Amani, Fatih Akin, Kurt Krömer und Axel Prahl. Zu den Unterzeichner:innen zählt auch die Grünenpolitikerin und Klimaaktivistin Luisa Neubauer.

Neubauer gehörte seit dem 7. Oktober zu einer der größten Verteidigerinnen des „Verteidigungsrechts Israels“, distanzierte sich öffentlich von Greta Thunberg und vermeintlich antisemitischen Aussagen der internationalen Fridays for Future Bewegung. Das gerade sie sich jetzt als Friedensaktivistin initiiert, stößt vielen sauer auf.

Vor allem, weil sie bis jetzt kein Wort zu ihrer plötzlichen politischen Richtungsänderung verloren hat. Letztendlich ist sie eine von vielen liberaleren zionistischen Politiker:innen, für die es nicht mehr vertretbar ist zu den Schrecken und Gräueltaten des israelischen Militärs zu schweigen, die ihre Weste reinwaschen wollen.

Aktivist:innen riskieren Leben für Gaza

Während Neubauer einen offenen Brief unterschreibt, setzt ihr internationales Pendant Greta Thunberg als Mitglied der Freedom Flotilla Coalition ihr Leben aufs Spiel, um auf den laufenden Völkermord, die humanitäre Krise und die Hungersnot in Gaza aufmerksam zu machen.

Auf dem Schiff „Madleen“, will sie mit einigen weiteren Besatzungsmitgliedern nach Gaza segeln, die israelische Blockade brechen und Hilfslieferungen an Land bringen. Anfang Mai wurde das Schiff bereits Ziel eines israelischen Drohnenangriffs und die Fahrt musste verschoben werden.

Auch in den letzten Tagen wurde das Schiff wieder von israelischen Heron-Drohnen observiert, die offiziell unter dem Kommando der griechischen Küstenwache stehen. Vertreter des israelischen Militärs kündigten derweil an, die Madleen nicht nach Gaza zu lassen und von ihrem „Recht auf Selbstverteidigung“ Gebrauch zu machen.

Israel: Angriffe aufs Hilfsgüter und Ausweitung des Krieges

Meinungsmache auf hohem Niveau

Jetzt gilt es all jenen die Hand zu reichen, die ehrlich und aufrichtig an der Seite der Unterdrückten stehen wollen. Die aus Angst vor Repression oder weil sie der bürgerlichen Propaganda auf den Leim gegangen sind erst jetzt ihren Mund aufbekommen. Es ist gut, wenn die Stimmung umschwenkt und mehr und mehr Menschen ihre Meinung zum israelischen Regime ändern.

Immer offensichtlicher wurde in den letzten Monaten auch die Rolle bürgerlicher Medien in der Stimmungsmache gegen den palästinensischen Widerstand. Die Nichtregierungsorganisation Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (kurz: RIAS) zum Beispiel, die nicht nur in Medien, sondern auch der Politik ein hohes Ansehen genießt, soll gezielt Stimmungsmache für Israel gemacht haben.

Zu dieser Erkenntnis kommt der israelische Journalist Itay Mashiash, der RIAS undurchsichtige Methoden vorwirft. Jede politische Meinungsäußerung von linken Juden oder Palästinenser:innen würden in ihrer Statistik als antisemitischer Vorfall auftauchen. Eine Statistik, die im Übrigen ein Großteil der offiziellen Akteure als Quelle nutzen.

RIAS soll gezielt Informationen ausgelassen oder falsch dargestellt haben, um die politische Meinung zu beeinflussen. Ein Vorwurf, den man vielen deutschen Medienhäusern machen kann, die Pressemeldungen des israelischen Militärs einfach so übernehmen, Propagandalügen verbreiten oder x-mal mehr Vertreter israelischer Organisationen und Behörden einladen, als Vertreter der palästinensischen Gemeinschaft.

Berichterstattung über Gaza: Die deutschen Medien verlieren ihre letzte Glaubwürdigkeit

Nieder mit dem Krieg!

Genau dieses Moment versuchen die Herrschenden jetzt aufzugreifen und für sich zu nutzen. Indem wir ihre geheuchelte Solidarität entlarven und an ihre eigenen Verbrechen erinnern, können wir dem entgegenwirken. Wenn sich 30 Prozent der Bevölkerung nicht nur in einer Umfrage, sondern auch auf der Straße für das Ende der Waffenlieferungen aussprechen und dafür kämpfen, können wir die Kriegstreiber in ihre Schranken weisen.

Dass gilt auch für diejenigen, die jetzt mit am eifrigsten die israelische Regierung kritisieren, aber grundsätzlich eigentlich gar kein Problem mit Vertreibung, Krieg und Besatzung haben. Diejenigen liberalen Zionist:innen, die sich keinen Deut um die Palästinenser:innen, sondern nur um das Ansehen und die Außenwirkung der Unterdrückung scheren.

Kein Vergeben – kein Vergessen!

Im November 2023, quasi noch kurz nach dem Beginn des Gaza-Krieges, als in Berlin und Hamburg langsam Demonstrationsverbote aufgehoben wurden und erste vorsichtige pro-palästinensische Positionen wieder Einzug in die bürgerlichen Medien und Teile der Politik gefunden haben, erklärte mir ein Freund wir dürften nicht anfangen zu vergessen.

Er hat davon geredet, dass sobald etwas Zeit ins Land gegangen ist, alle so tun würden, als wären sie schon immer an der Seite Palästinas gewesen. Als hätten sie nicht die Waffen geliefert, die jede Schule, jede Universität und jedes Krankenhaus in Gaza in Schutt und Asche gelegt haben. Irgendwann würde die Bundesregierung dann auch ein Denkmal für den Genozid in Gaza bauen und von ihrer Mittäterschaft nichts mehr wissen wollen.

Als hätten sie nicht das wahllose Morden und Vergewaltigen von Zivilist:innen damit gerechtfertigt, dass Israel sich eben verteidigen müsse. Als hätten sie nicht jeden der sich gegen die Staatsräson gestellt hat, in ihren Hetzblättern als Israelhasser, Islamisten und Terroristen diffamiert. Als hätten sie nicht vor laufender Kamera, die Bombardierung von Krankenhäusern und anderen zivilen Zielen gerechtfertigt.

Deutsche Heuchelei: Gaza-Genozid? Nicht auf leeren Magen!

Und jetzt ist die Zeit gekommen, in der wir all das nicht vergessen dürfen. Den einen geht es vielleicht um ihren guten Ruf, den anderen ist die israelische Regierung vielleicht zu rechts, aber gegen Krieg und Besatzung haben sie grundsätzlich nichts. Es sind die Luisa Neubauers dieses Landes, die jetzt versuchen werden, sich als die zu inszenieren, die auf der richtigen Seite der Geschichte stehen und dort schon immer standen. Wir wissen, dass es nicht so ist.

Alex Lehmann
Alex Lehmann
Perspektive Autor seit 2023. Jugendlicher Arbeiter im Einzelhandel aus Norddeutschland, schreibt gerne Artikel um den deutschen Imperialismus und seine Lügen zu enttarnen. Motto: "Wir sind die Jugend des Hochverrats!"

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