Zeitung für Solidarität und Widerstand

Proteste in Los Angeles: Ein Beispiel für Selbstorganisierung in der Nachbarschaft

Die ICE-Razzien in Los Angeles zeigen: Gegen staatliche Willkür können in Nachbarschaften Schutznetzwerke aufgebaut werden, die den Behörden etwas entgegenzusetzen haben. Was wir von den kollektiven Widerstandsstrategien aus Kalifornien lernen können – und warum sie gerade jetzt in unseren Städten relevant werden. – Ein Kommentar von Alexandra Baer.

Vor zehn Tagen überfielen bewaffnete Einheiten der amerikanischen Polizei- und Zollbehörde Immigration und Custom Enforcement (ICE) Los Angeles Straßen. Sie stürmten Geschäfte und nahmen Hunderte willkürlich fest. Dann geschah etwas unerwartetes: Aus der Erstarrung der Gewalt erwuchs ein Netzwerk des Widerstands – unsichtbar, schnell und vor allen Dingen kollektiv.

Während Polizeiknüppel, Ausgangssperren und Marinesoldaten die Angst regieren lassen sollten, organisierte sich in den Hinterhöfen und Wohnblocks etwas, das mächtiger ist als die Abschiebemaschinerie von ICE: die Nachbarschaft selbst.

Eine Chronologie der Ereignisse

Am Freitag, den 6. Juni startete mit den Razzien der ICE in Betrieben wie Home Depot oder Modegeschäften in Los Angeles eine neue Abschiebungs- und Festnahmewelle von Migrant:innen. Damit sollte die interne Direktive von Trump  zur Erfüllung einer Tagesquote von 3.000 Festnahmen von Migrant:innen erfüllt werden.

Gegen diese Razzien formierten sich unmittelbar spontane Proteste, auf die die Polizei mit Tränengas, Blendgranaten, Gummigeschossen und Reiterstaffeln reagierte. Es kam zu massenhaften Festnahmen. Bürgermeisterin Bass verhängte eine nächtliche Ausgangssperre im Zentrum von Los Angeles, die am Donnerstag verlängert wurde. Am Montag Morgen bestätigte Bass, dass die Ausgangssperre „mindestens noch ein paar Tage bestehen bleiben wird“.

„Operation At Large“: Trumps Krieg gegen Migrant:innen und Protestierende

In Reaktion auf die Proteste entsandte Präsident Trump ohne Absprache mit Kaliforniens Gouverneur Gavin Newsom 4.000 Nationalgardist:innen und 700 Marinesoldat:innen nach Los Angeles. Letzterer zog vor Gericht und bezeichnete die Übernahme der Nationalgarde als illegal.

Nach einem ersten Eilverfahren gab das Bundesberufungsgericht am Donnerstagabend die Kontrolle über die kalifornische Nationalgarde vorläufig an Donald Trump zurück. Die endgültige Entscheidung über die Kontrolle der Truppen wird jedoch voraussichtlich erst am Dienstag gefällt.

Am vergangenen Freitag wurde bei einem Einsatz in Los Angeles zudem erstmals ein Zivilist von den US-Marines festgenommen, wie das US-Militär bestätigte. Nach Reuters-Bildern nahmen Marines den 27-jährigen Armee-Veteranen Marcos Leao mit Kabelbindern fest und übergaben ihn an das Heimatschutzministerium, obwohl dieser lediglich eine abgesperrte Zone betreten hatte.

Am Samstag, den 14. Juni demonstrierten dann überwiegend friedlich landesweit fünf Millionen Menschen unter dem Motto „No Kings Day“ in über 2.000 Städten. Lediglich in LA setzte die Polizei Tränengas, Gummigeschosse und Polizeipferde ein, nachdem eine Gruppe von Demonstrierenden einen Platzverweis nicht befolgen wollte.

Aktive Solidarität unter Nachbar:innen

Eine Organisation, die die Proteste gegen die ICE-Razzien und „No Kings“-Proteste in verschiedenen Städten an der Westküste von Anfang an unterstützte ist Unión del Barrio. Mit anderen Nachbar:innen vertrieben sie die ICE-Einheiten in der ersten Welle der Proteste Schulter an Schulter aus ihrer Nachbarschaft.

Union del Barrio

Die Nachbarschaftsorganisation hat sich zum Ziel gesetzt, die demokratischen Rechte von „La Raza“ (Selbstbezeichnung lateinamerikanischer Communities in den USA) und die Interessen der Arbeiter:innenklasse zu verteidigen. Dabei orientieren sie sich an fortschrittlichen Bewegungen wie den Black Panthers, der kubanischen Revolution, der mexikanischen Studierendenbewegung der 1960er Jahre, der chilenischen Unidad Popular oder der Zapatista-Bewegung.

Die von Bürgermeisterin Bass verhängte Ausgangssperre betrachtet Unión del Barrio als Maßnahme, die gezielt Arbeiter:innen, Obdachlose und migrantische Communities in Downtown Los Angeles kriminalisiere. Sie kritisiert zudem, dass 80 Prozent des LA-Haushalts für Polizei und Militäreinsätze fließen, während Sozialprogramme gekürzt werden.

Unión del Barrio ruft deshalb zur eigenständigen Solidaritätsarbeit, zum Klassenkampf von unten, auf. Konkret organisiert die Organisation u.a. „Community Patrols“, also selbstorganisierte Patrouillen in der Nachbarschaft. Hinzu kommen Kontaktmöglichkeiten, um schnellstmöglich zu erfahren, ob etwas wie Zwangsräumungen oder Verhaftungen von ICE in ihrer Nachbarschaft passiert. So soll schnellstmöglich reagiert und diese Maßnahmen verhindert werden.

Union del Barrio

Auf ihrer Instagram-Seite sind anonyme Videos solcher Patrouillen zu sehen. Dort dokumentieren sie die Aktivität der ICE-Agent:innen und warnen die Nachbarschaft, wo ICE-Agent:innen in Autos ohne Kennzeichen gerade hinfahren. In einem anderen Video sieht man, wie Menschen aus der Nachbarschaft den Fahrzeugen der Grenzpolizei folgen und hupen, um die Nachbarschaft zu alarmieren.

Selbst Schüler:innen und Lehrer:innen einer Schule patrouillierten jeden Morgen während der Ferien in einem Viertel von San Diego, um migrantische Arbeiter:innen vor Razzien am Arbeitsplatz zu warnen.

Zwar sei es Unión del Barrio zufolge heute noch nicht aktiv möglich, ganze Städte zu verteidigen. Jedoch sei man in der Lage, in der Nachbarschaft aktiven Selbstschutz aufzubauen – „Haus für Haus, Straße für Straße“. Der einzige Weg der gewalttätigen Migrationspolitik etwas entgegenzusetzen, ist genau dies gemeinsam zu tun – „sich zusammenzuschließen, zu organisieren und einander zu verteidigen“.

Ziel der Organisation ist außerdem, der überlegenen Staatsmacht entgegenzutreten, indem man selber gut ausgebildete Kader entwickelt. Die Organisation fordert besonders die Bewohner:innen von Los Angeles und San Diego, aber auch vom Rest Südkaliforniens auf, sich der Organisation anzuschließen und gemeinsam zu kämpfen.

Union del Barrio

Organisierung in unseren Vierteln – auch in deutschen Städten?

Doch warum sollte uns das in Deutschland beschäftigen? Weil die gleichen Mechanismen der Repression hier längst Realität sind. Ob bei nächtlichen Abschiebungen, Polizeikontrollen in „Problemvierteln“, Naziparolen in unseren Kiezen oder wenn Faschist:innen ungestört CSDs angreifen.

Weil es in Deutschland mittlerweile fast täglich einen Femizid gibt und die Gewalt gegen LGBTI+ Menschen von 1.188 Fällen im Jahr 2022 innerhalb eines Jahres um fast 50 Prozent auf 1.785 Fälle gestiegen ist. Weil die Polizei nicht nur im Umgang mit faschistischen Drohungen gegen CSDs, sondern auch bei den Polizeimorden an Lorenz und Qabel oder bei Nakba-Demonstrationen in Berlin zeigt, dass sie kein „Freund und Helfer“, sondern „Feind und Täter“ ist.

Weil auch der deutsche Staat nicht nur durch seine rassistische Politik beweist, dass er nicht auf unserer Seite steht. Zuletzt zeigte er das auch durch die (rechtswidrige) Auslieferung der Antifaschist:in Maja in das faschistische Ungarn.

Haus für Haus, Straße für Straße

Die Lehre aus LA sollte also für uns alle klar sein. Wir müssen uns zusammen in unseren Vierteln, in unseren Schulen, Universitäten und auf der Arbeit organisieren. Und dies ist auch hoffnungsvoll: Denn dort, wo Menschen – Haus für Haus, Straße für Straße – ihr Schicksal zurückerobern, entsteht Klassenkampf von unten gegen die Unterdrückung von oben.

In Deutschland sind solche entwickelten Kämpfe heute eher eine Seltenheit. Kleine Ansätze finden sich immer wieder, wenn es beispielsweise Kampagnen gegen die Abschiebung einzelner Migrant:innen oder gegen Angriffe auf linke Aktivist:innen gibt. Oder auch wenn CSDs vor faschistischen Angriffen verteidigt werden sollen.

Doch meist geht eine solche Arbeit heute nicht mit einer tieferen Verankerung z.B. in der Nachbarschaft oder in der Schule einher. Zudem wird oft eine zu große Hoffnung in staatliche Institutionen wie Gerichte gelegt, die diese Probleme vielleicht doch lösen könnten, statt sie als Teil des Problems zu begreifen.

Die seit 1981 existierenden Organisation aus LA scheint hier schon ein paar Schritte weiter zu sein. Sie kann ein inspirierendes Beispiel für die praktische Selbstorgansierung und gegen die rassistischen Spaltungsversuche der Arbeiter:innenklasse sein.

Alexandra Baer
Alexandra Baer
Autorin Seit 2023. Angehende Juristin, interessiert sich besonders für Migration und Arbeitskämpfe. Alexandra ist leidenschaftliche Fußballspielerin und vermisst die kalte norddeutsche Art in BaWü.

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