Über ihre politische Arbeit in der südfranzösischen Stadt Marseille und die Bedeutung der Jugendaufstände in Frankreich haben wir ein Gespräch mit Lidia von der Organisation Secours Rogue Marseille (Rote Hilfe Marseille) geführt.
Secours Rogue Marseille greift mit einem breiten Verständnis in die gesellschaftlichen Kämpfe ein. Sie ist nicht nur eine Organisation für politische Gefangene oder gegen politische Repression, sondern setzt sich auch gegen staatliche Gewalt gegen die Arbeiter:innenklasse ganz allgemein ein. Ihr Ziel ist die Stärkung der Selbstverteidigung im Viertel nicht nur gegen die Staatsgewalt, sondern auch zum Beispiel gegen den Drogenhandel.Â
Kannst du einige der Arbeitsmethoden von Secours Rouge Marseille vorstellen?
Beispielsweise haben mehrere unserer Genoss:innen in den letzten Jahren einen Boxclub in Marseille aufgebaut. Dabei haben wir uns bewusst dafür entschieden, diesem Verein keine typische linke Identität, zum Beispiel als Antifa-Boxclub zu geben. Somit erreichen wir definitiv breitere Teile der Gesellschaft und momentan trainieren über 100 Personen regelmäßig in diesem Club.
Wir sehen diese Arbeit auch als Ansatz für die Arbeit gegen den Drogenhandel in Marseille an. Besonders im sehr armen Stadtzentrum ist dieser sehr ausgeprägt und ein großes gesellschaftliches Problem. Beispielsweise haben wir in einem Fall auch ein öffentliches Training an einem Ort organisiert, an dem sonst Drogen gehandelt werden. Durch eine Kooperation mit einem Boxclub aus Gaza haben wir auch den Aspekt des Internationalismus in diese Arbeit einfließen lassen.
Welche politischen Themen beschäftigen euch momentan?
Neben der breiten Solidaritätsbewegung mit Palästina in Marseille planen wir im Augenblick vor allem eine Kampagne gegen ein neues Gesetz, das gerade das französische Gesetzgebungsverfahren durchläuft.
Das Gesetz ist nach dem ehemaligen französischen Premierminister Gabriel Attal benannt, ein enger Verbündeter des Präsidenten Macron. Es sieht massive Verschärfungen des Jugendstrafrechts beziehungsweise seine teilweise Aufhebung vor. Jugendliche sollen schneller verurteilt werden können und schneller ins Gefängnis wandern. Auch sollen Eltern wirtschaftlich für die Taten ihrer Kinder zur Rechenschaft gezogen werden.
Dabei bezieht sich die Politik direkt auf die Aufstände nach der Ermordung von Nahel im Juni 2023. Damals haben sie gemerkt, dass sie nicht die juristischen Konsequenzen ziehen können, die sie für angemessen halten. Der jüngste Jugendliche in Haft war beispielweise 11 Jahre alt.
Das Ganze wird mit einer sehr islamophoben Diskussion kombiniert, in der darüber spekuliert wird, dass auch schon Jugendliche mit 12 Jahren Terrorist:innen sein können. Wir sind der Meinung, dass eine Gesellschaft, die ihre jüngsten Mitglieder ins Gefängnis sperren will, offensichtlich nicht funktioniert.
Wie schätzt ihr die Bedeutung solcher Riots für den französischen Staat ein?
In wenigen Ländern Europas können wir vergleichbar ausgeprägte Aufstände beobachten. 2023 sind Polizei und Staat wirklich an ihre Grenzen gekommen, das Ganze wieder militärisch unter Kontrolle zu bekommen. Die Riots waren von sehr gut organisierten Kleingruppen getragen, die immer wieder an anderen Punkten der Stadt auftauchten, schnell agierten und dann wieder verschwanden.
Die liberalen Ideen der Französischen Revolution und die folgenden Klassenkämpfe haben eine Gesellschaft geformt, die traditionell sehr stark auf das Mittel der Integration gesetzt hat. Jedoch sehen wir, dass sich das momentan ändert. Die Seite der Repression wird viel stärker, in dieser Hinsicht ähnelt die aktuelle Dynamik eher der Situation in den USA.
Könnt ihr uns noch etwas zum Ablauf dieser Aufstände in Marseille sagen?
Es war seit langer Zeit das erste Mal, dass es solche Riots auch in Marseille gab. Das steht in Verbindung mit einer bestimmten Entwicklung des organisierten Verbrechens in Marseille. Ein bedeutender Teil der perspektivlosen Jugend wird vom organisierten Verbrechen als Arbeitskraft eingebunden.
Vor den Aufständen nach der Ermordung von Nahel ist der Kampf zwischen den verschiedenen Gangs immer härter und schärfer geworden. An einem Punkt hat sich ein großer Teil der Jugendlichen dagegen entschieden, sich weiter dieser massiven Gefahr für das eigene Leben auszusetzen, und sich vom Drogenhandel abgewandt.
Das war eine wichtige Voraussetzung dafür, dass diese Riots in Marseille überhaupt eine Dynamik aufnehmen konnten, weil sie vorher in der Regel von den oberen Hierarchieebenen der Drogenkartelle unterbunden wurden, um keine Aufmerksamkeit auf das eigene Geschäft zu lenken.
2023 wurde die ganze Stadt von den Aufständen erfasst. Es gab auch starke Spannungen zwischen den Jugendlichen und dem organisierten Verbrechen. Es gab sogar Situationen, in denen die verbliebenen Kräfte der organisierten Kriminalität Teile „ihrer“ Viertel bewaffnet gegen die Jugendlichen verteidigten. Besonders auffällig war, dass nicht nur junge Männer, sondern auch viele junge Frauen an den Aufständen beteiligt waren.
Hast du eine Idee, warum so viele junge Frauen daran beteiligt waren?
 Man sieht, dass die Gesellschaft Veränderungen unterliegt. Die algerischen Migrant:innen machen einen großen Teil der Bevölkerung von Marseille aus, aber auch in diesem Teil gibt es sehr große Veränderungen. Die Jugendlichen fordern mehr Unabhängigkeit ein. Jedoch hat das verschiedene widersprüchliche Seiten. Einerseits gehen junge Frauen auch zu den Riots, andererseits sehen wir einen Verfall, in dem Sinne, dass schon Kinder prostituiert werden.
Beispielsweise stellen sich Zuhälter vor die hier vorhandenen Schutzhäuser für junge Frauen, die vor häuslicher Gewalt geflohen sind, um sie dort als Prostituierte zu rekrutieren.
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Wie bewertet ihr die politische Reaktionen auf die Aufstände nach dem Polizeimord an Nahel im Jahr 2023?
Selbst die Regierung war gespalten aufgrund der chaotischen Zustände. Niemand hatte mit diesem Ausmaß gerechnet. Ihre erste Reaktion bestand darin, den Familien Vorwürfe zu machen und zu behaupten, es würde sich nicht um gute Eltern handeln.
Auch die Rechten haben versucht, die Ereignisse zu ihren Gunsten auszunutzen und rassistische Agitation darauf zu stützen. Jedoch waren die Proteste ethnisch extrem heterogen, das mussten die bürgerlichen Politiker:innen auch selbst zugeben.
Linke politische Kräfte sind fast vollständig von den Massen überholt worden und konnten keine Beziehung zu dieser Protestform aufbauen. Sie haben die Ursachen für diesen Wutausbruch fast ausschließlich auf die Polizeigewalt beschränkt. Aus unserer Sicht hat ihnen aber ein Blick für die – wenn auch politisch nicht bewusste – Intelligenz gefehlt, mit denen diese Kämpfe organisiert wurden.
Aus unserer Sicht gilt es, aus diesen Ereignissen zu lernen, dass wir nicht Oberflächlichkeiten oder die Lust auf ein Spektakel ins Zentrum stellen dürfen. Viele von uns Linken haben stets eine ganz bestimmte Vorstellung davon, wie sich Kämpfe abspielen werden und wenn sie dann tatsächlich ausbrechen, nehmen sie fast immer eine ganz andere Form an, als von uns erwartet.
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