Zeitung für Solidarität und Widerstand

Verschärfung des Volksverhetzungs-Paragraphen: „Kampf gegen Antisemitismus ist hier nur ein Vorwand“

„Volksverhetzung“ – viele Menschen verbinden mit dem Begriff Hetze von faschistischen Kräften etwa gegen Jüd:innen, Muslime und andere Feindbilder. Nun kritisiert ein Kollektiv linker Anwälte die durch die Regierung angekündigten Verschärfungen des entsprechenden §130 im Strafgesetzbuch. Ein Interview mit Rechtsanwalt Roland Meister über die historische Entstehung des §130 als „Klassenkampfparagraphen“, über das „passive Wahlrecht“ und warum Anwälte sich politisch einmischen sollten.

In ihrem offenen Brief sprechen Sie sich gegen die Verschärfung des §130 aus und zeigen auch dessen Historie auf. Wie hat er sich entwickelt?

Hier kann die Geschichte nur stichpunktartig skizziert werden.

Die Geschichte des Paragraphen ist zunächst eine Geschichte von Repression und Kriminalisierung der sozialistischen/kommunistischen und Arbeiterbewegung in Deutschland. In seiner Urfassung im Reichsstrafgesetzbuch von 1871 hieß es im Paragrafen, dass bestraft wird, „wer in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise verschiedene Klassen der Bevölkerung zu Gewalttätigkeiten gegeneinander öffentlich anreizt“. Dies galt natürlich nicht den Herrschenden, sondern richtete sich gegen die Ausgebeuteten und Unterdrückten, die für eine sozialistische Perspektive kämpften. Die Repression mündete dann im sogenannten Sozialistengesetz, wie die Kurzbezeichnung für das Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie lautete – die damals noch revolutionär war.

Auf Druck demokratischer Kräfte wurde erreicht, dass 1899 das Reichsgericht in Strafsachen in Leipzig den „Klassen“-Status der jüdischen Bevölkerung in Deutschland erkannte, was theoretisch die Möglichkeit der Verfolgung antisemitischer Hetze nach § 130 StGB ermöglicht hätte. Tatsächlich nahm jedoch die durch den Staat und die Justiz mitgetragene antikommunistische und antisemitische Hetze in der Weimarer Zeit zu und war wesentlicher Bestandteil der Faschisierung unter dem Schlagwort des Kampfs gegen den „jüdischen Bolschewismus“.

Im Faschismus erließ Hitler als Reichskanzler bereits am 4. Februar 1933 die Verordnung zum Schutze des deutschen Volkes, die auch die Bestimmungen des damaligen § 130 RStGB wesentlich verschärfte.

Nach dem Sieg über den Hitler-Faschismus lehnten bürgerliche Politiker Strafvorschriften, die ausdrücklich die antisemitische Leugnung der Verbrechen des Faschismus beinhalteten, ab. Lediglich Vertreter der KPD forderten dies ausdrücklich. In dem Buch von Christoph Jahr Antisemitismus vor Gericht. Debatten über die juristische Ahndung juden-feindlicher Agitation in Deutschland (1879-1960) heißt es dazu zutreffend: „,Symptomatisch für die Weigerung der meisten Parlamentarier, sich mit der virulenten Frage einer strafrechtlichen Kriminalisierung von antijüdischer Agitation und der Aufstachelung zum Rassenhass zu befassen, war die Tatsache, dass mit Ausnahme des KPD-Abgeordneten Hugo Paul alle anderen Mitglieder des Parlamentarischen Rats eine entsprechende Ergänzung des Grundgesetzes für überflüssig hielten.“

Nachdem faschistische Kräfte in Deutschland erneut an Einfluss gewannen und sich dagegen antifaschistischer Widerstand entwickelte, wurde schließlich am 28. Oktober 1994 in den § 130 StGB in einem neuen Absatz 3 insbesondere die Strafbarkeit der Holocaustleugnung aufgenommen.

Mit dem Gesetz zur Änderung des Versammlungsgesetzes und des Strafgesetzbuchs vom 24. März 2005 wurde – ebenfalls vor allem aufgrund der Proteste der antifaschistischen Bewegung – zusätzlich aufgenommen, dass bestraft wird, „wer öffentlich oder in einer Versammlung den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört, dass er die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt.“

Der § 130 StGB hatte deshalb als wesentlichen Bestandteil eine antifaschistische Seite.

Welche aktuellen Verschärfungen sind durch die aktuelle Regierung geplant und wieso kritisieren Sie das?

Dazu müssen wir drei Jahre zurücksehen. Klammheimlich und im Blitztempo peitschte die SPD/Grünen/FDP-Regierung, unterstützt von der CDU, am 20. Oktober 2022 eine Neufassung des § 130 StGB durch den Bundestag. Es handelte sich um eine ausgeprägt reaktionäre und antikommunistische Verschärfung, die Militarisierung und eine aggressive Außenpolitik nach innen begleitete.

Der § 130 StGB wurde durch Hinzufügung eines Absatzes verschärft. So soll fortan jede Art öffentlicher Billigung, Leugnung oder gröbliche Verharmlosung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen geahndet werden können. Hier kam es bereits zu Strafverfahren im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg, wo kritische Stellungnahmen als Unterstützung Putins bezeichnet wurden, oder im Zusammenhang mit den Ereignissen am und nach dem 7.10.2023 im Gazastreifen, wo Kritik an der israelischen Politik als Verharmlosung von Völkermord angesehen wird.

Die Erweiterung des Paragrafen richtet sich auch gegen Veröffentlichungen, die zum sozialistischen Aufbau in den früher sozialistischen Ländern positiv Stellung nehmen und sich kritisch mit antikommunistischen Desinformationen auseinandersetzen. U.a. soll die Leugnung angeblicher ’stalinistischer Verbrechen‘ unter Strafe gestellt werden. Der berechtigte Kampf der Roten Armee und kommunistischer Partisanen gegen den faschistischen Überfall ist in ihren Augen nichts als Massenmord oder gar ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Eine sachliche, wissenschaftliche Diskussion über die sozialistische Sowjetunion soll im Keim erstickt werden. Das verunmöglicht zugleich, wirkliche Fehler und auch Verbrechen, die im Namen des Sozialismus begangen wurden, aufzuarbeiten.

Die damalige Neufassung des § 130 Abs. 5 StGB schuf damit deutlich erweiterte Möglichkeiten für Polizei und Justiz zur Kriminalisierung „missliebiger“ politischer Ansichten und politischer Gegner und öffnet einer Gesinnungsjustiz Tür und Tor, die sich in erster Linie gegen links richtet.

Die neue Regierung will das jetzt noch ausbauen. Im Koalitionsvertrag heißt es: „Im Rahmen der Resilienzstärkung unserer Demokratie regeln wir den Entzug des passiven Wahlrechts bei mehrfacher Verurteilung wegen Volksverhetzung. Wir wollen Terrorismus, Antisemitismus, Hass und Hetze noch intensiver bekämpfen und dazu insbesondere den Tatbestand der Volksverhetzung verschärfen.“

Weiter soll die Regelausweisung von Migrant:innen erleichtert werden, wenn sie Straftaten begehen. Als Beispiel wird ausdrücklich die Verurteilung zur Volksverhetzung genannt.

Natürlich ist es richtig, gegen Antisemitismus vorzugehen. Aber unter dem Vorwand des Kampfs gegen den Antisemitismus sollen Kritiker des völkerrechtswidrigen Vorgehens Israels in Gaza als vermeintliche „Antisemiten“ gebrandmarkt werden, sollen ihre Wählbarkeit verlieren oder – wenn sie nicht die deutsche Staatsangehörigkeit haben – ausgewiesen werden.

Wir fordern daher, dass das auf keinen Fall in Gesetzeskraft erwachsen darf.

Aber wäre es aus antifaschistischer Sicht nicht gut, wenn z.B. jemand wie Björn Höcke (AfD) – wenn er mehrfach wegen Volksverhetzung verurteilt wird – nicht mehr gewählt werden darf?

Zu Recht ist bereits heute das Leugnen oder Verharmlosen des Holocausts unter Strafe gestellt. Höcke kann also auch bereits jetzt ohne Probleme strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden.

Aufgrund der Potsdamer Abkommen ist meiner Ansicht nach die AfD bereits verboten. Dieses Verbot müsste nur vollzogen werden. Selbst wenn man diese Meinung nicht teilt, kann ohne Probleme ein Verbotsverfahren begonnen werden.

Anwält:innen kritisieren eine Gesetzesveränderung – warum eigentlich? Ist es nicht die Aufgabe von Anwält:innen, mit den Gesetzten zu arbeiten und nicht gegen sie?

Alles demokratische und fortschrittliche Recht in der Welt ist erstritten worden, hat denen, die sich ihm widersetzten, abgerungen werden müssen. Der Kampf um demokratische Rechte und Freiheiten und gegen Repression, Unterdrückung und Faschismus ist Bestandteil und letztlich auch Ergebnis gesellschaftlicher Auseinandersetzung. Anwält:innen sind Vertreter der Interessen ihrer Mandant:innen, letztlich eine Art sozialer Gegenmacht.

Auch neue Gesetzesvorhaben sind Teil dieser Auseinandersetzung. Man hätte den Beruf verfehlt, würde man sich kritiklos mit reaktionären Gesetzesvorhaben abfinden.

Das Eintreten für eine fortschrittliche Entwicklung von Recht und Gesellschaft beinhaltet auch, deutlich gegen Repression und Unterdrückung Position zu beziehen. Nach meinem Verständnis ist der Anwaltsberuf mehr als nur ein Weg zu gutem Einkommen und gesellschaftlichem Prestige.

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