Immer mehr Länder kündigen Schritte an, zur Atomkraft zurückzukehren oder diese auszubauen, darunter die USA und mehrere EU-Staaten. Hinter dieser Entwicklung stehen neben geopolitischen Interessen der jeweiligen Länder auch Vorstöße global führender Konzerne.
Die US-Regierung unter Trump kündigte kürzlich einen enormen Ausbau der Atomkraft an: Bis zum Jahr 2050 soll die Strommenge, die durch Atomkraft erzeugt wird, von 100 Gigawatt auf 400 Gigawatt vervierfacht werden. Dafür soll der Bau neuer Atomkraftwerke erleichtert werden. Zudem soll die Förderung von Uran – dem für Atomkraftwerke benötigten Brennstoff – vermehrt in den USA selbst stattfinden. Für diese Ziele unterzeichnete Präsident Trump bereits mehrere Dekrete.
Ende Mai wurde in Berlin bei der Anschalt-Konferenz die Reaktivierung deutscher Kernkraftwerke gefordert. Dabei wurde auch über den Kauf und die Wiederinbetriebnahme von Atomkraftwerken durch US-Unternehmen in Deutschland gesprochen. Dieser Vorschlag stellt bisher jedoch keine tatsächlichen Pläne dar. Die Einstellung zur Wiederaufnahme der Kernenergie-Produktion in Deutschland der neuen Regierung unter Merz ist verhalten.
EU-Kommission: Atom- und Gasenergie werden zu nachhaltigen Technologien
Europäische Länder auf Kurswechsel
Zeitgleich werden in zahlreichen europäischen Ländern deutliche Schritte zur Wiedereinführung oder zum Ausbau von Kernenergie unternommen.
So kippte die belgische Regierung Mitte Mai offiziell das Gesetz zum Atomausstieg von 2003. Damit müssen nun Belgiens existierende Atomkraftwerke doch nicht geschlossen werden und es dürfen sogar neue gebaut werden. Belgiens junger Energieminister Mathieu Bihet (Mouvement Réformateur/MR) nannte diesen Schritt in einer Presseerklärung „unverzichtbar angesichts des internationalen Kontextes und der aktuellen geopolitischen Unsicherheit“.
In Italien wurde bereits im März ein Gesetzentwurf angenommen, der die Wiederaufnahme von Atomenergie vorsieht. Der italienische Minister für Umwelt und Energiesicherheit, Gilberto Pichetto Fratin (Forza Italia), begründete diese Entwicklung mit dem Ausstieg aus fossilen Energiequellen wie Kohle, wobei der Umstieg auf erneuerbare Energien allein nicht ausreiche, um den steigenden Strombedarf zu decken. Neben dem Anstieg industrieller Produktion und dem steigenden Lebensstandard nannte er den hohen Strombedarf von Rechenzentren und Künstlicher Intelligenz (KI) als Ursache des erhöhten Energiebedarfs in Italien.
In Dänemark zeichnet sich eine ähnliche Entwicklung ab: Die dänische Regierung prüft derzeit die Vorteile moderner Atomkraft-Technologien. Die Wiedereinführung von Kernenergie würde die Aufhebung des seit 40 Jahren bestehenden dänischen Atomkraft-Verbots bedeuten.
Spanien überdenkt nach einem großflächigen, mehrstündigen Stromausfall am 28.04.2025 ebenfalls seinen Plan, seine sieben Atomkraftwerke außer Betrieb zu nehmen.
Und in Frankreich, wo etwa 70 Prozent der Elektrizität aus Kernenergie gewonnen werden, ist der Bau weiterer sechs moderner Atomkraftwerke in Aussicht.
Der Aufschwung von Atomkraft findet nicht nur in den USA und Europa statt: Beispielsweise stimmten 2024 in Kasachstan 71 Prozent der Wähler:innen bei einem nationalen Referendum für den Bau des ersten Atomkraftwerks des Landes. Unternehmen aus China, Südkorea, Frankreich und Russland konkurrieren nun um den Auftrag zu dessen Bau.
Kein Comeback von Atomenergie in Deutschland
In Deutschland wurde im Zuge des im Jahr 2002 beschlossenen Atomausstiegs das letzte Atomkraftwerk 2023 abgeschaltet. Als zuverlässige Energiequelle, ergänzend zu erneuerbaren Energien, setzt der deutsche Staat vor allem auf Gas. Strom aus erneuerbaren Energiequellen wie Wind- und Wasserkraft sowie Solarenergie ermöglicht Deutschland bei günstigen Wetterverhältnissen eine Überproduktion und damit sogar einen Stromexport. Bei ungünstiger Witterung ist es dagegen auf wetterunabhängige Energiequellen angewiesen, darunter auch auf den Stromimport aus Frankreich.
Dabei befanden sich beide Staaten in einem innereuropäischen Machtkampf um Energiesektoren. Diese Auseinandersetzungen äußerten sich deutlich rund um die Einstufung der EU-Kommission von Gas und Atomkraft als „nachhaltig“ im Jahr 2022. Anfang Mai gaben nun beide Regierungen ein gemeinsames Papier heraus, laut dem es einen „deutsch-französischen Neustart in der Energiepolitik“ geben solle.
Deutschland gibt damit seinen langjährigen Widerstand gegen den Pro-Atom-Kurs anderer EU-Staaten wie Frankreich auf.
Die Rückkehr zur Atomkraft in Deutschland selbst scheint jedoch weiterhin unrealistisch. Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) sprach sich zwar vor seinem Amtsantritt regelmäßig gegen den deutschen Atomausstieg aus. Die neue Regierung aus CDU und SPD verfolgt aktuell aber keine Pläne zur Wiederaufnahme deutscher Kernkraftwerke. Stattdessen gab Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) kürzlich bekannt, dass sich Deutschland für weitere EU-Gelder für Wind- und Solarenergie einsetze.
Energiepolitische Interessen
Politische Machtkämpfe rund um aktuelle und zukünftige Energiesektoren spielen sich nicht nur innereuropäisch ab. So wurden auch Bestrebungen zur deutschen Energie-Autonomie zuletzt mit der Eskalation des Kriegs in der Ukraine im Februar 2022 entfacht. Russland war bis zu diesem Zeitpunkt einer der wichtigsten Gaslieferanten für Deutschland und stellte die Lieferungen im August 2022 ein.
Einerseits gibt es in Deutschland weiterhin ein Streben nach der Unabhängigkeit von Russland als Energielieferant. Andererseits zeigt sich das deutsche Interesse an einer Wiederaufnahme dieser Handelsbeziehung derzeit im Vorantreiben von Verhandlungen zur Beendigung des Ukraine-Kriegs.
Auch politisch-ideologische Interessen prägen diese Auseinandersetzung. Mit dem Aufstieg rechter Regierungen in Staaten wie den USA oder Italien, aber auch in Deutschland geht eine Betonung der nationalen Industrie einher. Dazu zählt auch die teilweise Ablehnung von Umweltschutz oder vermeintlich „grüner“ Politik. Dagegen versuchen liberale Regierungen wie die in Frankreich, ihr wirtschaftliches Interesse an der Atomenergie als Klimaschutzinteressen zu tarnen, indem sie diese Energiequelle als „nachhaltig“ deklarieren.
Ebenso spielen die direkten Interessen von Großkonzernen beim anscheinend neuen Aufschwung von Atomenergie eine Rolle: Führende Technologieunternehmen setzen vermehrt auf die Nutzung von Atomenergie und unterstützen moderne Entwicklungen in diesem Bereich. Dazu zählen vor allem kleinere Reaktoren, die direkt in Fabriken gebaut werden und diese zuverlässig mit Strom versorgen sollen.
Im Oktober 2024 schloss Google den weltweit ersten Deal darüber ab, Energie von mehreren kleinen Atomreaktoren zu kaufen, um damit seine für KI benötigten Rechenzentren zu versorgen.
Kernenergie teurer als erneuerbare Energien
Die Kosten für den Bau neuer Atomkraftwerke sind generell höher als die für erneuerbare Energien. Einer Berechnung für Australien zufolge wären die Kosten für Elektrizität aus Kernenergie zwei- bis zehnmal so hoch wie die aus Solar- bzw. Windenergie. In vielen Ländern überstiegen die tatsächlichen Kosten für den Bau von Atomkraftwerken zudem die angesetzten Kosten massiv.
Beispielsweise wurde in Finnland im Jahr 2003 der Bau eines neuen Reaktors verhandelt. Die Fertigstellung verzögerte sich um mehr als 14 Jahre und die Projektausgaben beliefen sich auf das Dreifache der ursprünglichen Kosten. Ähnlich verhielt es sich in Frankreich, wo sich der Bau eines Reaktors ebenfalls um 14 Jahre verzögerte und sich die Baukosten um das Sechsfache erhöhten.
In beiden Fällen wurden Festpreisverträge unterzeichnet, sodass die Lieferanten erhebliche Verluste machten. Beim finnischen Projekt führte dies sogar zur Übernahme des verantwortlichen Unternehmens durch einen Konkurrenten. Deswegen setzen Lieferanten vermehrt auf Verträge, die eine Anpassung des Endpreises ermöglichen. In Großbritannien z.B. wird der stark gestiegene Preis für ein geplantes Atomkraftwerk auf die Preise für die Verbraucher umgelegt werden.
Ein Grund dafür, dass zahlreiche Staaten trotz der höheren Kosten auf Kernenergie statt erneuerbare Energien setzen, ist vermutlich die konstante Versorgung mit Elektrizität durch eigene Kernkraftwerke. Im Kontrast dazu ist die Stromversorgung durch erneuerbare Energien durch ihre Wetterabhängigkeit aktuell noch unregelmäßiger. Länder – wie im Fall Deutschlands – wären gegebenenfalls auf den Import von Energie und Strom aus anderen Quellen angewiesen.
Zeitenwende und Kriegstüchtigkeit: Als nächstes Atomwaffen für die BRD?