In einem Interview hat Nato-Generalsekretär Mark Rutte vor einem koordinierten kriegerischen Vorgehen Russlands und Chinas gewarnt. Sein Szenario eines russischen Angriffs auf das Baltikum zur Deckung einer chinesischen Invasion in Taiwan ist aber vor allem darauf gerichtet, ein Ausscheren der USA aus der Nato zu verhindern. – Ein Kommentar von Thomas Stark.
Ein Niederländer schlägt hohe Wellen. Zahlreiche Medien haben in den vergangenen Tagen ein Interview des Nato-Generalsekretärs Mark Rutte mit der New York Times aufgegriffen und Alarm geschlagen. Rutte hatte in dem Gespräch vor gemeinsamen russisch-chinesischen Kriegsplänen und der Möglichkeit eines russischen Angriffs auf einen der baltischen Staaten wie Estland „in fünf oder sieben Jahren“ gewarnt. Die Berliner Morgenpost machte aus den Äußerungen die Schlagzeile: „Bricht so der Dritte Weltkrieg aus?“ – und generierte damit vermutlich jede Menge Klicks.
Was steckt hinter Ruttes Szenario?
Die Äußerung Ruttes fiel im Zusammenhang mit einer Diskussion über die künftige US-amerikanische Rolle in der Nato. Speziell ging es um die Frage, ob die USA im Falle eines russischen Angriffs auf das Baltikum militärisch eingreifen würden, wie es Artikel 5 des Nato-Vertrags vorsieht. Der frühere niederländische Ministerpräsident zeigte sich diesbezüglich „zu 100 Prozent“ sicher und verwies insbesondere auf das „exzellente außenpolitische Team“, das US-Präsident Donald Trump um sich versammelt habe.
Zwar gäbe es einen „großen Störfaktor“, nämlich die zu geringen Militärausgaben der europäischen Nato-Staaten in den vergangenen Jahren. Dieses Problem sei jedoch, wie Rutte gegenüber der NYT nicht müde wurde zu betonen, mit dem Nato-Gipfel in der vergangenen Woche gelöst.
Bei der Frage der Nato-Beistandsverpflichtung sei ihm zufolge vielmehr entscheidend, dass die USA geostrategisch darauf angewiesen seien, neben der Arktis den Atlantik und Europa zu sichern. Sonst werde Russland früher oder später die USA angreifen: „Wenn die Arktis, wenn der Atlantik, wenn Europa nicht sicher sind, haben die USA ein großes Problem.“
Ein zweiter Grund für die Notwendigkeit der Verteidigung des Nato-Gebiets aus Sicht der USA liege daneben im Indopazifik — und hier malte Rutte das Szenario, das nun vielfach zitiert wird: „Wenn Xi Jinping Taiwan angreifen würde, würde er zunächst seinen Juniorpartner Wladimir Wladimirowitsch Putin in Moskau anrufen und ihm sagen: ‚Hey, ich werde das tun, und du musst sie in Europa beschäftigen, indem du NATO-Gebiet angreifst.‘ So wird es höchstwahrscheinlich ablaufen.“
Um das zu verhindern, müsse die Nato „zwei Dinge tun“: „Erstens muss die NATO als Ganzes so stark sein, dass die Russen niemals so etwas tun würden. Und zweitens müssen wir mit dem indopazifischen Raum zusammenarbeiten – etwas, das Präsident Trump sehr fördert.“
Taiwan intensiviert Militärübungen und US-Handelsbeziehungen
Was ist von dem Szenario zu halten?
Ruttes russisch-chinesisches Kriegsszenario, das nun alarmistisch aufgegriffen wurde, diente vor allem zur Untermauerung des Punktes, den er während des gesamten Interviews immer wieder machte: Nämlich den USA gegenüber zu begründen, warum sie strategisch weiterhin auf das transatlantische Nato-Bündnis setzen sollten. Hierbei wisse er Teile der US-Regierung wie Außenminister Marco Rubio auf seiner Seite.
Eine andere Position innerhalb des Trump-Lagers sähe die USA dagegen zukünftig lieber in einer engen Allianz mit Russland, wie z.B. der frühere Chefstratege des US-Präsidenten und ultrarechte Influencer Steve Bannon. Ein solches Bündnis dürfte russisch-chinesische Kriegspläne ebenso obsolet machen, wie Ruttes düstere Vision eines russischen Angriffs auf die USA. Vielmehr wären es dann die USA, die sich militärisch neutral verhalten könnten, wenn die russische Armee nach Osteuropa expandiert. Vor allem dieses Szenario wäre aber aus Sicht der europäischen Staaten ein großer Albtraum.
Rutte geht es vor allem darum, die strategischen Interessen der europäischen Staaten zu verteidigen, und die liegen in einer Aufrechterhaltung der US-Beistandsverpflichtung in Europa. Da sich der US-Präsident bislang alle Optionen offen hält, ist der Niederländer gut beraten, sich gegenüber Washington ins Zeug zu legen – und diese Aufgabe hat er rund um den Nato-Gipfel mit dem Durchpeitschen des 5-Prozent-Ziels bei den Rüstungsausgaben und diversen Schmeicheloffensiven gegenüber Donald Trump erfüllt. Wenn Zeitungen und Fernsehsender jetzt sein Weltkriegs-Szenario aufgreifen und europaweit die Pferde damit scheu machen, unterstützt das ebenso sein Anliegen.

