Zeitung für Solidarität und Widerstand

Delegation in der Westsahara: „Ein Grund für das Schweigen vieler westlicher Länder ist die eigene Kompliz:innenschaft“

Die Westsahara hat eine lange Geschichte der Kolonialisierung und des Kampfes der Menschen für Freiheit und Selbstbestimmung. Im Frühjahr 2025 reisten Internationalist:innen in die selbstverwalteten Camps der Polisario – der Befreiungsbewegung der Westsahara. Wir haben ein Interview mit zwei Genoss:innen geführt und dabei über ihre Reise und die Situation der Westsahara gesprochen.

Vielleicht kurz zu euch – wer seid ihr und mit welchem Ziel seid ihr in die selbstverwalteten Gebiete in Algerien gereist?

Wir sind Aktivist:innen aus Leipzig und sind in verschiedenen Teilen der linken Bewegung aktiv. Wir sind der Einladung der Polisario gefolgt und waren gemeinsam mit weiteren Internationalist:innen aus dem deutschsprachigen Raum Teil einer Solidaritätsreise in die Westsahara.

Durch die Reise konnten wir unmittelbar erfahren, wie die Situation und die Realität der betroffenen Menschen vor Ort ist. Wir haben das Leben in den Geflüchtetencamps in der Wüste, die gesellschaftliche und politische Organisierung und den Befreiungskampf der Polisario kennengelernt.

Leider findet der Kampf der Polisario, die jahrzehntelange Besatzung und Unterdrückung weitgehend unbeachtet von der Weltöffentlichkeit statt. Auch in linken Kreisen ist unserer Wahrnehmung nach das Wissen darum sehr begrenzt. Dies ist ein Grund, weshalb Solidaritätsdelegationen in die Westsahara stattfinden. Es ist eine Möglichkeit, Öffentlichkeit zu schaffen und die internationale Solidarität zu stärken.

Was habt ihr für Erfahrungen gemacht?

Während unserer Zeit im Camp haben wir dort bei Familien gewohnt. Wir haben erfahren, wie sehr die Auswirkungen von Krieg und Vertreibung alle Menschen betreffen. Wir haben auch viel darüber erfahren, wie die Menschen ihr Leben sowie die Verwaltung des Camps mit ca. 40 000 Bewohner:innen organisieren.

Vom Camp aus haben wir als Delegation täglich gemeinsame Unternehmungen durchgeführt. Wir hatten eine Vielzahl von Treffen und Diskussionen mit Genoss:innen aus der saharauischen Gesellschaft und dem Widerstand. Wir haben auch viele Orte und Institutionen besucht, unter anderem den Sitz des Volksrates, soziale Einrichtungen, die Frauenunion, ein Gewerkschaftstreffen und vieles mehr.

Wir konnten an einer Solidaritätsdemonstration für die politischen Gefangenen teilnehmen und viel über die Geschichte und Gegenwart der Region lernen.

Vieles, was wir gesehen und erlebt haben, hat uns über die Reise hinaus tief beeindruckt. Wir haben gesehen, wie eine Gesellschaft unter schwierigsten Bedingungen dazu in der Lage ist, sich gemeinsam zu organisieren, solidarisch zu sein und Widerstand zu leisten und wie die Verwaltung innerhalb des Rätesystems funktioniert und eine politische Organisierung in vielen Lebensbereichen umgesetzt werden kann.

Viele Menschen, mit denen wir gesprochen haben, verstehen sich als Revolutionäre. Sie verstehen die Arbeit zum Aufbau der Strukturen nicht nur als notwendig, um das Überleben in der aktuellen Situation zu sichern, sondern als eine Vorbereitung für die Zeit nach der Revolution, wenn das Ziel der Befreiung der besetzten Gebiete Wirklichkeit geworden ist.

Für uns Linke aus Deutschland in der heutigen Zeit war es eine besondere Erfahrung, uns in einem gesellschaftlichen Rahmen zu bewegen, der nicht durch die sonst alles durchdringenden kapitalistischen Strukturen geprägt ist. Es war auch eine besondere Erfahrung, als Kommunist:innen und Anarchist:innen von den Institutionen und der Bevölkerung wertgeschätzt und als Verbündete behandelt zu werden, während wir in unserem Alltag hier oft Marginalisierung, Delegitimierung und Repression in Bezug auf unsere politische Haltung und Praxis erfahren.

Wenn wir an die Westsahara und die Menschen, die wir getroffen haben, denken, erinnern wir uns an eine unglaubliche Gastfreundschaft, das Leid, das die Saharauis als Konsequenz der jahrzehntelangen Kolonialisierung kollektiv und individuell ertragen müssen und den dennoch ungebrochenen Widerstandswillen.

Die Region ist seit Jahrzehnten von den blutigen Spuren des Neokolonialismus geprägt. Wie wirkt sich das auf die heutige Situation der Sahrauis aus?

Innerhalb der durch Marokko besetzten Gebiete herrscht eine Politik der Unterdrückung. Eine offene politische Organisierung der Sahrauis wird mit brutaler Gewalt durch Polizei, Militär und dem Wirken des Geheimdienstes angegriffen. Aber auch die saharauische Kultur darf nicht stattfinden. Vielen Ritualen, der traditionellen Kleidung und Zelten wird oftmals repressiv entgegen getreten. Es findet eine Politik der Assimilierung statt, es soll nur eine marokkanische Identität geben.

Das zeigt sich in gesellschaftlichen Bereichen wie Bildung und Kultur oder der offensiven und forcierten Siedlerbewegung, welche die verbleibenden Sahrauis in den besetzten Gebieten bereits zu einer Minderheit gemacht hat. Zusätzlich betreibt Marokko einen aufwendigen Propagandakrieg, in dem das eigene Narrativ allgegenwärtig präsent ist, während unabhängige und ausländische Sender verboten sind.

In den befreiten Gebieten ist ein ziviles Leben in Sicherheit spätestens nach dem Ende des Waffenstillstands zwischen Polisario und Marokko 2020 nicht mehr möglich. Neben der Gefahr von Minen, die es in vielen Gebieten gibt, kommt es dort vor allem zu Angriffen durch Drohnen.

Das Leben mitten in der Wüste ist aufgrund der Beschaffenheit der Umgebung jedoch am Rande dessen, was Menschen ertragen können. Es gibt keinen Zugang mehr zu fruchtbaren Böden, zu Wasser und Seen. Materiell sind die Menschen abhängig von Unterstützung von außen, ohne Hilfslieferungen gäbe es innerhalb kürzester Zeit kaum noch Essen. Diese Hilfe hat in den letzten Jahren abgenommen, der sahrauische Halbmond hat vor wenigen Tagen von einer schweren Ernährungskrise berichtet, demnach leiden 13,9 Prozent der Menschen in den Camps an akuter Unterernährung.

In Bezug auf den Widerstand der dortigen Bevölkerung wird immer wieder vom „vergessenen Aufstand Afrikas“ gesprochen. Woran liegt das?

Die Unterdrückung der Westsahrauis erhält international sehr wenig Aufmerksamkeit. Viele Menschen wissen nichts oder kaum etwas über die lange Geschichte des Kolonialismus und des Kampfes in der Westsahara. In Anbetracht des Ausmaßes und der langen Historie der Unterdrückung scheint es kaum nachvollziehbar, dass die Westsahara auf internationaler Ebene und in den Medien kaum Beachtung findet.

Wir haben an vielen Stellen gehört, dass sich die Menschen vergessen fühlen und es den starken Wunsch danach gibt, dass die Geschehnisse von außerhalb wahrgenommen werden. Wir wurden während unserer Reise in Gesprächen fast täglich gebeten und aufgefordert, in unseren Ländern über das, was wir gesehen haben, zu sprechen und eine Öffentlichkeit zu schaffen.

Ein Grund für das Schweigen vieler westlicher Länder ist die eigene Kompliz:innenschaft. Der Hauptgrund, weshalb Marokko die Westsahara heute besetzt, ist kapitalistischer Natur. Die Westsahara verfügt über viele Reichtümer, beispielsweise Bodenschätze wie Phosphat, ertragreiche Anbauflächen für Landwirtschaft und eine fischreiche Küste. Es gibt gewinnbringende Wirtschaftszweige, z.B. die Windenergie. Die Ausbeutung der Westsahara, die einen Diebstahl an der saharauischen Bevölkerung darstellt, hat viele Profiteure. Viele westliche, auch deutsche Firmen, profitieren von der Unterdrückung der Sahrauis.

Auch andere Staaten haben ein Interesse an einem Stück von dem Kuchen, das zeigt sich zum Beispiel durch lukrative Wirtschaftsabkommen, die mit Marokko abgeschlossen werden. In den letzten Jahren hat Marokko in Bezug auf die Anerkennung der besetzten Gebiete als marokkanisch durch andere Staaten Fortschritte erzielen können. Geholfen hat dabei auch die rassistische Politik der EU gegenüber Geflüchteten. So hat auch Deutschland ein Abkommen mit Marokko geschlossen, Marokko macht seine Grenzen dicht und im Gegenzug stellt die besetzte Westsahara keine diplomatische Hürde dar.

Die Solidarität mit den unterdrückten Völkern in Kurdistan und Palästina ist schon seit langem Konsens in der revolutionären und internationalistischen Bewegung Deutschlands. Wie lässt sich der Befreiungskampf in der Westsahara auch von hier aus unterstützen?

Als Internationalist:innen sind wir mit allen Menschen solidarisch, die sich gegen Unterdrückung wehren. Neben dieser Tatsache und einer politischen Nähe mit dem Demokratischen Sozialismus der Polisario leben wir in Deutschland und der EU. Die Geschichte der kolonialen Ausbeutung und Unterdrückung vor allem afrikanischer Länder (wie die Westsahara von Spanien) ist ein zentraler Baustein für heute bestehende globale Ungleichheiten und Ausgangspunkt für Macht und Ausbeutungsformen, die ehemalige Kolonialmächte wie Deutschland mit imperialistischen Mitteln bis heute fortsetzt.

Deutschland und deutsche Firmen spielen eine aktive Rolle bei der Ausbeutung der Westsahara. Aus dem kolonialen Erbe, der geopolitischen Position und dem Wirken Deutschlands ergibt sich für uns als Antiimperialist:innen eine Verantwortung, die auch Ansätze für eine solidarische Praxis ergeben kann.

Auch innerhalb der linken Bewegung wird die Westsahara oftmals vergessenen. Öffentlichkeit zu schaffen, ist derzeit sowohl mit Blick auf die ganze Gesellschaft als auch in Bezug auf die linke Bewegung wichtig. Sich über die Westsahara zu informieren, auf dem Laufenden zu bleiben und anderen davon zu erzählen, ist etwas, dass alle solidarischen Menschen leisten können.

Derzeit gibt es in verschiedenen Städten Bemühungen, Solidaritätsstrukturen für die Westsahara aufzubauen. In Frankfurt hat sich vor wenigen Wochen das Westsahara Solidaritätskomitee „Smara“ gegründet. In vielen Städten gab es in den letzten Wochen inhaltliche Veranstaltungen und Filmvorführungen. Es ist auch gelungen, das Thema vermehrt zumindest in die linke Presse zu tragen.

Es gibt zudem einen Austausch, eine Vernetzung und ein Kennenlernen von Internationalist:innen in Deutschland zu dem Thema. Der Bezug zur Westsahara von möglichst vielen Genoss:innen durch vergangene und zukünftige Delegationsreisen und der entstandene Austausch mit den Polisario sind sicher ein wichtiger Schritt hin zu einer sich hoffentlich formierenden stärkeren Solidaritätsbewegung.

Vom 31.10. – 14.11.25 sind bundesweite Aktionswochen zur Westsahara geplant und es wird in verschiedenen Städten Veranstaltungen geben.

Perspektive Online
Perspektive Onlinehttp://www.perspektive-online.net
Hier berichtet die Perspektive-Redaktion aktuell und unabhängig

Mehr lesen

Perspektive Online
direkt auf dein Handy!