Der Machtkampf um die Besetzung des höchsten deutschen Gerichts wird auch von der AfD erfolgreich mitgeführt, natürlich auf dem Rücken des Selbstbestimmungsrechts der Frauen. – Ein Kommentar von Paul Gerber.
In letzter Minute hat die CDU/CSU-Fraktion vergangenen Freitag die geplante Wahl von drei Bundesverfassungsrichter:innen abgesagt. Offensichtlich war sich Hobby-Maskenhändler und Fraktionsvorsitzender Jens Spahn (CDU) nicht mehr sicher, ob er die notwendige Zahl der Stimmen in den eigenen Reihen sichern würde. Eine weitere Blamage, wie beim gescheiterten ersten Kanzlerwahlgang einige Monate zuvor, sollte vermieden werden.
Das zumindest ist die offizielle Erklärung, die verbreitet wurde. Auch sonst bemühte sich unter anderem Kanzler Merz die Gemüter zu beruhigen, und meinte, die gescheiterte Wahl sei „kein Beinbruch“.
Anstoß genommen hatten immer mehr Abgeordnete offenbar an der von der SPD-Fraktion vorgeschlagenen Juristin Frauke Brosius-Gersdorf. Diese hatte unter anderem öffentlich geäußert, sie sei der Meinung, die Frage des Schwangerschaftsabbruchs in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft solle komplett unabhängig vom Strafgesetzbuchsparagrafen 218 geregelt werden.
In der Berichterstattung wurde vor allem durch rechte Meinungsmedien und Influencer:innen ihre Position dabei immer wieder so verzerrt dargestellt, dass sie deutlich linker erschien, als sie tatsächlich ist – beispielsweise, dass sie Schwangerschaftsabbrüche ganz grundsätzlich nicht mehr bestrafen wollen würde.
Schwangerschaftsabbrüche als Ansatzpunkt für eine gezielte Kampagne
Natürlich gehört es zur politischen Bewertung dieses ungeplanten parlamentarischen Theaterauftritts, dass eine nominierte Verfassungsrichterin nicht gewählt wird, weil schon der Gedanke, Schwangerschaftsabbrüche in den ersten drei Monaten ganz grundsätzlich nicht mehr unter Strafe zu stellen (und nicht nur unter bestimmten Bedingungen, wie es gerade der Fall ist), einer Allianz aus rechten Kommentator:innen, AfD-Abgeordneten, Teilen der CDU/CSU und natürlich den Kirchen zu „links“ war.
Das Ganze jedoch nur als großen Angriff auf die körperliche Selbstbestimmung der Frauen in diesem Land zu werten, greift noch recht kurz. Denn bevor eine Frau Brosius-Gersdorf oder irgendjemand anders Verfassungsklagen gegen eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts ablehnen könnte, müsste dagegen geklagt werden. Und bevor dagegen geklagt werden könnte, müsste eine solche Liberalisierung überhaupt erst mal den Bundestag und den Bundesrat erfolgreich passieren. Bisher hat es den „Volksvertreter:innen“ immer am politischen Willen dazu gefehlt.
Eine „Linke“ ist die viel diskutierte Rechtswissenschaftlerin im Übrigen ohnehin nicht. So hatte sie sich bei anderen Gelegenheiten unter anderem für die Rente mit 70 ausgesprochen.
Der „Deal“ um das Bundesverfassungsgericht
Mindestens ähnlich bedeutend wie die inhaltliche Frage, an der sich die Kampagne gegen die von der SPD nominierte Rechtswissenschaftlerin entzündet hatte, ist die Besetzung des Bundesverfassungsgerichts selbst und der Kampf um den Einfluss auf eben dieses höchste deutsche Gericht.
Die bisherige Praxis im Bundestag war, dass SPD- und CDU abwechselnd „Vorschläge“ für die insgesamt acht von ihm zu besetzenden Richterplätze in den beiden Kammern des Verfassungsgerichts unterbreiten und diese dann von beiden Parteien gemeinsam durchgesetzt werden.
Deutlich wird hier, dass die angeblich „demokratische“ Besetzung des Verfassungsgerichts schon bisher faktisch nur die Demokratie der größten und einflussreichsten Parteien im Bundestag war. Ausgeschlossen waren dabei stets alle Parteien, die eine bestimmte Zahl von Parlamentssitzen nicht überschritten und erst recht die Bevölkerung selbst. Unverkennbarer Effekt dieses Mechanismus ist, dass regelmäßig Richter:innen bestimmt werden, die der Politik der regierenden Parteien möglichst wenig in die Quere kommt.
Basis dafür, dass sich dieser Deal etablieren konnte, war die über Jahrzehnte als gesichert geltende Zwei-Drittel-Mehrheit von SPD und CDU. 2016 und 2018 sah man sich aber offenbar zumindest gezwungen Grüne und FDP in dieses Verfahren zu integrieren und billigte ihnen jeweils für einen der acht Sitze ein sogenanntes „Vorschlagsrecht“ zu.
Durch die Ergebnisse der letzten Wahl, bei der die FDP aus dem Bundestag ausschied, steht aber nun auch dieser neue Deal der „demokratischen Mitte“ eigentlich in Frage. Denn eine Zwei-Drittel-Mehrheit kann im aktuellen Bundestag bekanntlich nur noch durch gemeinsames Agieren von Union, SPD und Grünen sowie unter Einbeziehung von entweder Linkspartei- oder AFD-Abgeordneten erreicht werden. Der ganze ursprüngliche Plan für die für den 11. Juli angesetzte Verfassungsrichter:innenwahl basierte also auf der stillschweigenden Hoffnung, dass die Linkspartei die Wahl mittragen würde, ohne selbst Einfluss auf die Besetzung des Verfassungsgerichts nehmen zu können.
Die Linke rettet sich in den Bundestag – aber rettet sie auch uns?
Wie die neue Rechte ihren Einfluss einbaut
Gescheitert ist die Wahl jedoch nicht an der Linkspartei, sondern daran, dass sich in der CDU/CSU zu großer Unmut über den Vorschlag geregt hat. Ursprünglich geht das jedoch zurück auf politischen Druck, der sehr gezielt in einer Kampagne der vornehmlich rechten Medien gegen Brosius-Gersdorf aufgebaut wurde.
Beobachter:innen und Analyst:innen kommen hierbei zur Einschätzung, dass diese Kampagne ungefähr am 1. Juli auf Social-Media-Accounts mit politischer Nähe zur AfD ihren Anfang nahm und dann schnell auch die großen Flagschiffe der rechten Medienlandschaft ergriff.
Während die Vorschläge für die Verfassungsrichter:innenwahl also monatelang in diversen Ausschüssen der Koalitionsparteien diskutiert und angenommen wurden, wurde in nicht mal 10 Tagen vom rechten Rand gezielt ein so massiver Druck aufgebaut, dass die Unionsfraktionsspitze die Wahl offenbar bei den eigenen Mitgliedern nicht mehr für durchsetzbar hielt.
Machtpolitisch sendet die AfD mitsamt ihrem politischen Vorfeld damit eine klare Botschaft: Auch wenn ihr uns formell von der Besetzung solcher Richterämter ausschließen wollt, haben wir genug Einflussmöglichkeiten, um eure Wahlen im Zweifel trotzdem zu unseren Gunsten zu beeinflussen.
Wer kokettiert in der CDU/CSU-Fraktion mit weiteren Kooperationen mit der AfD?
Mindestens indirekt muss sich also die CDU/CSU zukünftig überlegen, auch bei der Besetzung derartiger Positionen schon auf die AfD und ihre Anhängerschaft politisch Rücksicht zu nehmen, indem zum Beispiel Kandidat:innen abgelehnt werden, die für das rechtskonservative Lager derart große Angriffsflächen wie Brosius-Gersdorf bieten.
Alternativ dazu wäre natürlich auch denkbar, ganz offen in Verhandlungen mit der AfD einzutreten, um die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit zu sichern. Das jedoch ist ein Schritt, zu dem sich die Unionsfraktionen bisher offenbar nicht durchringen konnten, ungeachtet des ständigen nach Rechts Rückens in ihrer eigenen Politik.
Ausgerechnet der nun absichtlich oder unabsichtlich erneut an seiner Aufgabe, die notwendigen Mehrheiten in den eigenen Reihen zu sichern, gescheiterte Fraktionsvorsitzende Jens Spahn hatte ja bereits einen Vorstoß gewagt, als er vorschlug, die AfD wie „jede andere Oppositionspartei“ zu behandeln.

