Psychisch krank? Dann bist du bald im Visier der Behörden. Was in Hessen mit der Überprüfung von über 1.600 psychisch kranker Menschen beginnt, setzt sich nun bundesweit fort: Immer mehr Landesregierungen reformieren ihre Psychisch-Kranken-Gesetze mit dem Ziel, Überwachung, Datenerfassung und Zugriffsmöglichkeiten auszuweiten. – Ein Kommentar von Alexandra Baer.
In Hessen läuft derzeit eine systematische Überprüfung von rund 1.600 Personen, bei denen in Polizeidatenbanken der Vermerk „psychische und Verhaltensstörung“ hinterlegt ist. Eine spezielle Taskforce des Landeskriminalamts analysiert dabei, ob von diesen Menschen ein Risiko für schwere Gewalttaten ausgehen könnte. Grundlage sind polizeiliche Einträge und Merkmale wie Substanzabhängigkeit, Suizidalität oder psychotische Episoden. Je nach Einschätzung drohen Maßnahmen wie Gefährderansprachen, Aufenthaltsverbote oder Überwachung.
Die neue Linie: Prävention durch Kontrolle
Dem voraus geht in Hessen ein Gesetzesentwurf – „Zweites Gesetz zur Änderung des Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetzes“ –, der Meldepflichten bei Entlassungen aus der Psychiatrie, neue Datenübermittlungen, erweiterte Definitionen von Gefährdung und einen immer größeren Kreis potentiell „auffälliger“ Personen vorsieht.
Gleichzeitig wird die ärztliche Schweigepflicht weiter aufgeweicht, Datenschützer:innen und Fachverbände werden übergangen. Eine ärztlich attestierte Krankheit soll genügen, um zum Risiko erklärt zu werden – verbunden mit massiven Grundrechtseingriffen. Die Linie lautet: Stigma statt Hilfe – „Prävention“ durch Kontrolle.
Nicht nur Hessen – Bundesländer überarbeiten „Psychisch-Kranken-Gesetze“
Das Ganze ist allerdings nicht nur ein hessisches Problem – wobei man sich schon die Frage stellen könnte, was denn eigentlich mit Hessen los ist. NSU 2.0, das neue hessische Versammlungsgesetz, dass die Erhebung persönlicher Daten durch Versammlungsleitungen, polizeiliche Bild- und Tonaufnahmen und erleichterte Verbote und Auflösungen von Versammlungen vorsieht oder auch die Datenanalyse-Software „Hessendata“, die vom Bundesverfassungsgericht gekippt wurde – all das gibt Anlass zur Sorge um das Bundesland.
Aber zurück zum Thema: Immer mehr Bundesländer überarbeiten ihre Psychisch-Kranken-Gesetze, um Behörden besser zu „vernetzen“, Daten weiterzugeben und Kontrolle auszuweiten. Dabei zählen laut der Innenministerin Schleswig-Holsteins Sabine Sütterlin-Waack (CDU) Datenschutz und die ärztliche Schweigepflicht zu den größten Hürden.
Ursachenbekämpfung? Fehlanzeige.
Statt die Gründe für die zunehmenden psychischen Erkrankungen zu untersuchen – Stress, Armut, Einsamkeit, Arbeitsdruck, soziale Unsicherheit –, werden die Erkrankten nun zum Sündenbock gemacht. Statt sich mit dem offenkundig rechtem Hintergrund des Anschlags in Magdeburg zu befassen, lenkten CDU-Politiker die Debatte auf psychische Erkrankungen um. Carsten Linnemann forderte sogar ein Register für psychisch kranke Menschen, als wäre Krankheit gleichzusetzen mit Gefährlichkeit.
In einem Interview mit Deutschlandfunkt erklärte er im Januar: „Ich ziehe die Lehre daraus, dass Attentäter in Deutschland nicht einfach zu definieren sind. Ich meine, wir haben große Raster angelegt für Rechtsextremisten, für Islamisten, aber offenkundig nicht für psychisch kranke Gewalttäter. Und das ist einfach ein großes Defizit in Deutschland. Es reicht nicht aus, Register anzulegen für Rechtsextremisten und Islamisten, sondern in Zukunft sollte das auch für psychisch Kranke gelten.“
Diese gefährliche Gleichsetzung übersieht zwei zentrale Fakten: Erstens hätte ein solches Register auch in Magdeburg keinerlei präventive Wirkung gehabt. Der Täter war nicht diagnostiziert und wäre im Raster nie aufgetaucht. Zweitens ist der Zusammenhang zwischen psychischer Erkrankung und Gewalttätigkeit nicht eindeutig – im Gegenteil, psychisch Erkrankte sind häufiger Opfer als Täter.
Eine britische Studie zeigte 2021: 19 Prozent der Patient:innen mit schweren psychischen Erkrankungen wurden körperlich angegriffen – im Vergleich zu nur drei Prozent in der Allgemeinbevölkerung. Zwölf Prozent der Patientinnen und sieben Prozent der Patienten waren von häuslicher Gewalt betroffen, während der Anteil in der Gesamtbevölkerung bei rund zwei Prozent liegt. Patientinnen in Psychiatrien sind im Vergleich zu allen anderen Frauen zehnfach häufiger Opfer von sexualisierter Gewalt geworden (Stand: 2022) und bei einer webbasierte Umfrage unter Patientinnen psychiatrischer Angebote gab fast die Hälfte der Befragten an, während ihres stationären Aufenthalts sexuelle Übergriffe erlitten zu haben.
Besonders besorgniserregend: Laut der Zeitschrift der Polizeigewerkschaft ist etwa die Hälfte der Menschen, die bei Polizeieinsätzen getötet werden, psychisch krank. Fehlende Schulung und Deeskalation führen immer wieder zu tödlichen Eskalationen.
Alltag in der Psychiatrie: Die Würde des Menschen ist antastbar
Wer wird hier eigentlich geschützt?
Mit der „Gefährderlogik“ in der Psychiatrie wird ein gefährliches Präzedenzmodell geschaffen. Statt Versorgung von psychisch Kranken zu verbessern, wird stigmatisiert und überwacht. Die Software „Hessendata“ – entwickelt von Palantir – steht sinnbildlich dafür: automatisierte Auswertung, undurchsichtige Algorithmen, potenziell diskriminierende Resultate.
Schritt für Schritt zum Überwachungsstaat: Automatisierte Datenanalyse mit Palantir?
Politisch wird suggeriert, man könne Sicherheit durch staatliche Kontrolle gewinnen. Doch was wirklich gebraucht wird – niederschwellige, langfristige psychosoziale Angebote, wohnortnahe Therapieplätze, Sozialarbeit, Inklusion –, bleibt systematisch unterfinanziert. Die Folgen lassen sich jetzt schon erahnen: Menschen, die Hilfe bräuchten, fürchten den Stempel des Gefährders. Sie meiden die Therapie aus Angst, gespeichert zu werden. Die Versorgung verschlechtert sich, die Isolation wächst – wie sich das auf die Menschen in unserer Gesellschaft auswirkt, ist wahrscheinlich allen klar.

