Ein neues Gesetz unterstellt die unabhängigen Anti-Korruptionsbehörden nun dem Staat. Der Leiter einer Anti-Korruptionsbehörde wird festgenommen. Proteste in der Ukraine, Kritik aus der EU. Auch die Verhandlungen mit Russland bringen keine Entlastung.
Unruhige Zeiten stehen dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj bevor. Nicht nur aufgrund der momentanen Kriegsoffensive Russlands, auch innenpolitisch brodelt es. Grund hierfür ist die nachlässige Korruptionsbekämpfung. Im Wahlkampf um das Präsidentenamt 2019 versprach Selenskyj, die Korruption in der Ukraine zu beenden.
Nun, sechs Jahre später, hat sich die Situation in der Ukraine laut Statista nur leicht verbessert. Die Ukraine liegt im internationalen Vergleich auf Platz 105, eine Position schlechter als noch im Vorjahr. Dass mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine die Korruptionsbekämpfung in den Hintergrund gerückt sein könnte, bestätigen auch westliche Politolog:innen wie Susan Stewart.
Zugleich habe es aber eben auch schon lange vor Kriegsbeginn ein „System der Korruption“ in der Ukraine gegeben. Mit seinen jüngsten Handlungen leiste der ukrainische Präsident der Korruption nun unabhängig vom Kriegsgeschehen mit Russland einen Vorschub. Tatsächlich ist einer der korruptesten Bereiche der, in dem derzeit am meisten Geld über den Tisch wandert: bei den Waffendeals für die Ukraine.
Am vergangenen Dienstag unterzeichnete er ein Gesetz, das die Unabhängigkeit zweier Anti-Korruptionsbehörden beschränkt. Einst auf Druck der Europäischen Union aufgebaut, wurden die beiden Behörden nun dem Generalstaatsanwalt unterstellt, der somit die Kontrolle über sie hat. Die Position des Generalstaatsanwalts hatte Selenskyj erst kürzlich neu besetzt und diesen zusätzlich in den Rat für Sicherheit und Verteidigung berufen. Eine breite Machfülle also für einen Mann, der Selenskyj nahesteht.
Beseitigung russischer Einflüsse als Vorwand
Der Präsident begründete den Gesetzesvorstoß damit, dass die Anti-Korruptionsbehörden unter russischem Einfluss stünden. Dies solle mit seinem Vorstoß bereinigt werden. Die Verabschiedung der Gesetzesvorlage führte zu landesweiten Protesten. Allein in der Hauptstadt Kiew versammelten sich Tausende auf dem Ivan Franko-Platz. Dabei erinnerten sie immer wieder an den damaligen Euromaidan 2014, als nach monatelangen Demonstrationen der unter Korruptionsverdacht stehende und prorussische Präsident Janukowytschs zurücktrat.
In der Folge wurden eben jene Anti-Korruptionsbehörden geschaffen, die jetzt wieder in ihrem Einfluss beschränkt wurden. Eine Demonstrantin erklärte, dieses Gesetz gebe „den Mächtigen das Recht zu tun, was immer sie wollen, auch wenn das unsere Rechte verletzt.“ Sie habe noch die Hoffnung, dass die Ukraine der EU beitrete. Währenddessen versuchte die Opposition das Rednerpult zu blockieren, um das Gesetz zu verhindern.
Bereits seit einigen Tagen ist das Thema Korruption wieder in der gesellschaftlichen Debatte. Am Montag wurden Ermittlungen gegen einen bekannten Anti-Korruptionsaktivisten öffentlich. Vitalij Schabunin, Leiter des Zentrums für Korruptionsbekämpfung, wird vorgeworfen, sich unerlaubt von seinen Armeeposten entfernt zu haben und trotzdem noch weiterhin Sold zu kassieren. Hinzu kommt die Zweckentfremdung eines 20 Jahre alten Geländewagens. Schabunin und seine Organisation weisen die Anschuldigungen als Lügen und politisch motiviert zurück.
Auch international erfährt Schabunin Rückhalt. Ukraine-Experte und Politikberater Mattia Nelles sprach von politischer Verfolgung und Rache. Insgesamt 90 Nichtregierungsorganisation wandten sich in einem offenen Brief an den Präsidenten mit der Forderung, die Justiz nicht politisch zu missbrauchen.
EU kritisiert Selenskyjs Vorhaben
Wolodymyr Selenskyj gerät durch den Widerspruch zwischen der systematischen Korruption im eigenen Land und den internationalen Geldgebern mit ihren eigenen Interessen zunehmend unter Druck. Aus Brüssel heißt es von der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nun, die „Achtung der Rechtsstaatlichkeit“ und die „Bekämpfung der Korruption“ seien „Kernelemente der Europäischen Union“.
Als Beitrittskandidat werde von der Ukraine erwartet, dass sie diese Standards uneingeschränkt einhalte. Hier könne es „keine Kompromisse“ geben. Dass beispielsweise auch ihr Herkunftsland Deutschland alles andere als frei von korrupten Politiker:innen ist, wird dabei gern in den Hintergrund gerückt.
Von der Leyen erwarte eine Erklärung aus Kiew. Als Reaktion auf fortwährende Kritiken veröffentlichte Selenskiyj am Mittwoch eine Videobotschaft. In dieser sprach er von einer weiteren Gesetzesinitiative „zur Stärkung der Rechtsordnung“. Er betonte nochmals explizit jeglichen russischen Einfluss zu beseitigen und die Unabhängigkeit der Anti-Korruptionsbehörden zu gewährleisten.
Dass Russland hybride Kriegsführung betreibt und die verschiedensten ukrainischen Institutionen versucht zu unterlaufen, davon ist auszugehen. Die Korruption in der Ukraine geht jedoch länger zurück und es erscheint fraglich, weshalb Putin versuchen sollte, gerade die ukrainische Korruption zu bekämpfen.
Frieden mit Russland in weiter Ferne
Indes ist ein Frieden mit Russland noch lange nicht in Sicht. Zwar trafen sich am Mittwochabend Vertreter:innen beider Staaten in Istanbul zu einem Treffen. Inhalt solle aber nicht eine Waffenruhe, sondern lediglich der Austausch von Kriegsgefangenen gewesen sein. Nach weniger als einer Stunde einigten sich die Parteien laut russischen Angaben darauf, dass jeweils 1.200 Inhaftierte ausgetauscht werden.
Die russischen Unterhändler:innen fügten hinzu, dass die Positionen in Bezug auf ein Kriegsende „sehr weit“ voneinander entfernt seien. Somit wird Selenskyj auch außenpolitisch die Ukrainer:innen nicht besänftigen können. Bereits vor über einem halben Jahr war die Hälfte der Bevölkerung für ein schnelles Kriegsende. Da nun sowohl die Aussicht auf Frieden als auch auf Gleichheit und Gerechtigkeit in der Ukraine in weite Ferne rückt, schmälert sich der Rückhalt für den ukrainischen Präsidenten. Die Ukrainer:innen, die weder von der Korruption noch dem Krieg etwas haben, drängen darauf, dass sich beides zu ihren Gunsten entwickelt.

